Annäherung an die Wirtschaftsmetropole Sao Paulo

Vom Piratennest zur Global City

Von der Hafenstadt Santos führen zwei breitspurige Autobahnen steil in die Berge der Serra do Mar, des dicht bewaldeten Küstengebirges, hinauf auf ein lang gestrecktes Plateau. Hier thront Sao Paulo, das mächtigste Wirtschaftszentrum der südlichen Hemisphäre.

Die Dynamik ist atemberaubend, Sao Paulo, die "Stadt, die tatsächlich niemals schläft", ist Brasiliens Wirtschaftsmotor, Finanzzentrum und Innovations-Pool Nummer 1. Mehr als ein Drittel der brasilianischen Wirtschaftsleistung wird in der Stadt und ihrem Einzugsgebiet erarbeitet. Wäre Sao Paulo ein unabhängiges Land, läge es mit seiner Wirtschaftskraft weltweit in den Top 40, noch vor vielen EU-Ländern.

Inmitten nebelverhangener Berge

Sao Paulo ist ein Spätstarter. In den ersten Jahrhunderten der Kolonisierung hatte sich die Besiedlung durch die Portugiesen an der Küste konzentriert, rund um Hafenstädte wie Rio de Janeiro, Salvador und Recife. Hinauf in die nebelverhangenen Berge der Serra do Mar traute man sich nicht, seien diese doch von wilden Tieren und feindlich gestimmten Indios bevölkert, wie Reisende ehrfürchtig berichteten.

Lediglich eine Hand voll Abenteurer, Glücksritter und Outlaws nutzten eine Schneise in der Serra do Mar und erklommen das Hochplateau auf der Suche nach Gold, Diamanten und Indio-Sklaven. Für sie war die Jesuitenmission Sao Paulo der Stützpunkt für ihre waghalsigen Expeditionen ins Hinterland, ein "Piratennest auf dem Trockenen", rund 70 Kilometer von der Küste entfernt.

Wirtschaftlich messbaren Erfolg brachten die Raubzüge nicht, starben die meisten Abenteurer doch auf ihren meist jahrelangen Zügen durch das Landesinnere. Aber die bandeirantes, wie sich die Abenteurer selber nannten, die Fahnenträger, bestimmen mit ihrer Waghalsigkeit bis heute den wesentlichen Charakterzug der Bewohner Sao Paulos: nimmermüde dem eigenen Glück auf der Spur, ohne Grenzen zu kennen oder Mühen zu scheuen.

Autobahn statt Abenteurer-Route

Solch Fleiß wird im restlichen Brasilien gerne misstrauisch beäugt, die Menschen in Sao Paulo dächten nur ans Arbeiten, würden kein Vergnügen kennen, lästern vor allem die Cariocas, die Einwohner der Strandviertel des traumhaften Rio de Janeiro. Die Paulistanos seien Individualisten, auf Erfolg getrimmte egoistische Arbeitsbienen, die sich von niemandem in ihr unruhiges Treiben hineinreden lassen.

In solch harten Urteilen mag ein Funken Wahrheit liegen. "Non ducor duco" lautet das lateinische Motto der Stadt: nicht geführt werden, sondern selber führen.

Die beiden Autobahnen hinab nach Santos, errichtet auf gigantischen Betonstelzen und durch ein Tunnelsystem mitten durch die Berge getrieben, zeichnen die alte Route der Abenteurer von einst nach. Sie ist die Lebensader Sao Paulos, über sie rollen die LKWs mit den Überseecontainern hinab nach Santos, zum größten Frachthafen Brasiliens. Von hier gehen die Autos, Chemieprodukte und Haushaltsgeräte auf ihre Reise über den Südatlantik hinaus auf die Weltmeere.

Wirtschaftswunder mit Kaffee

Doch für den Beginn des Wirtschaftswunders war erst einmal die gute alte Eisenbahn verantwortlich. Und der Kaffee. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Plantagenbesitzer aus den östlichen Nachbarregionen Rio de Janeiro und Minas Gerais auf die ungewöhnlich fruchtbaren Böden und das für die Kaffeepflanze ideale Klima des Interiors, des Landesinnern, aufmerksam geworden.

Schnell boomte der Absatz nach Europa und in die Vereinigten Staaten, wo die neu entstandenen Mittelschichten für den in Massen hergestellten Kaffee hohe Preise zahlten. Sao Paulo wurde zum Handelspunkt, zum Umschlagplatz für Millionen Sack Kaffee, und dank der 1869 eingeweihten Bahnlinie hinab nach Santos konnte der Export in großem Stil vorangetrieben werden. Vollgestopft mit Kaffeesäcken "made in Brazil" verließ Dampfer um Dampfer den Hafen von Santos.

Während die konkurrierenden Kaffeeplantagen im britischen Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, unter verheerenden Plagen zusammenbrachen, eroberte Brasiliens kostengünstig produzierter Kaffee den Weltmarkt. Die Bohnen aus Sao Paulo ließen dabei die Kassen der Kaffeebarone kräftig klingeln. Und die zeigten Weitsicht und erweiterten ihre Aktivitäten. So entstanden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Textilfabriken.

Mit der Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888 sahen sich die Plantagenbesitzer und Textilfabrikanten jedoch gezwungen, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben. Und die kamen vor allem aus Europa, und das zu Hunderttausenden. Italiener, Deutsche und Portugiesen folgten dem Lockruf in die neue, boomende Welt. Aber auch Arbeiter aus dem Mittleren Osten und aus Asien strömten nach Sao Paulo und verwandelten das verschlafene Städtchen, das 1870 gerade einmal knapp 20.000 Einwohner zählte, bis zum Ende des Kaffeebooms Anfang der 1930er Jahre in eine aufgeregte Millionenstadt.

Urbanisierung und Industrialisierung

Sao Paulo wurde zu einem wahren Schmelztiegel der Kulturen, über Nacht entstand Brasiliens kosmopolitischste Stadt. Und die wuchs und wuchs, und mit ihr der Hunger nach Energie. 1926 ging das Wasserkraftwerk Henry Borden ans Netz, gespeist aus den Flüssen und Seen des Hochplateaus. Bis zum heutigen Tag wird das Wasser dabei durch eine Röhre ins Gebirge geleitet, bevor es an einer 720 Meter hohen Steilwand der Serra do Mar entlang hinab auf eine Turbine stürzt.

Sao Paulo verfügte nun über Energie für seine Urbanisierung und Industrialisierung. Über die im Eilschritt angelegten Straßen der aus dem Boden schießenden neuen Stadtviertel fuhren bald die ersten Straßenbahnen, überall wurde hektisch gebaut.

Hatte man bis dahin die für die Bautätigkeit benötigten Güter aus dem fernen Europa kommen lassen, stellte man sie nun selber her. Die um sich greifende Bauwut befeuerte eine Dynamik, die die Stadt innerhalb weniger Jahre in Brasiliens führendes Industriezentrum verwandeln sollte.

Eigenproduktion statt Import

Mit den Gewinnen aus dem Kaffeeexport gründeten Sao Paulos Unternehmer die ersten großen Fabriken, die Maschinen für die Landwirtschaft und die Bauwirtschaft herstellten. "Substituicao de importacao" lautete das Motto jener Zeit, Eigenproduktion statt Import. Das rettete die Wirtschaft der Region, als der Kaffeeboom 1930 abrupt endete.

Sao Paulo verfügte längst über ein krisenresistentes Netz aus Banken, Investoren, Import- und Exportunternehmen, Industriellen und Plantagenbesitzern. Selbst das zeitweise Erliegen der Weltmärkte aufgrund des Zweiten Weltkriegs brachte die aufstrebende Metropole nicht mehr aus dem Schritt.

Nach dem Krieg setzte die Regierung verstärkt auf die Ansiedlung von Schwerindustrie. Große europäische Automobilkonzerne wie Volkswagen und Mercedes kamen nach Sao Paulo, und um ihre Fabriken herum siedelten sich Zulieferbetriebe an. Millionen arme Bauern aus dem Nordosten Brasiliens lauschten daheim an ihren Radioempfängern den schier unglaublichen Geschichten über den Boom im Süden, packten kurzentschlossen ihr knappes Hab und Gut und machten sich auf den langen Weg ins Glück.

Sao Paulo

(c) Neuhauser, ORF

Mekka für Dienstleistungen

Die Spuren des unkontrollierten Bevölkerungswachstums in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sind bis heute zu sehen: rund um die Stadt zieht sich ein schier unendlicher Gürtel aus Armensiedlungen, in denen einfache Arbeiter mit ihren Familien unter oft prekärsten Bedingungen leben.

Was lässt die Menschen trotzdem ausharren? Es muss wohl das Versprechen auf eine bessere Zukunft, auf eine Teilhabe an dem überall sichtbaren Reichtum Sao Paulos sein. Wer hierher kommt, der will nach oben, koste es was es wolle.

Und nach oben wollen so viele, dass es langsam eng wurde. Die Stadt stieß an ihre Grenzen, das Limit war erreicht. Immer mehr Industriebetriebe siedelten ab den 1980er Jahren ins Umland, in der Stadt selber war für Fabrikhallen kein Platz mehr. Der Mangel an Wohnraum verwandelte die Stadt in ein Meer aus Hochhäusern - nur Richtung Himmel konnte man noch wachsen.

Während sich die Schwerindustrie in das nördliche und östliche Umland zurückzog, verwandelte sich Sao Paulo in ein Mekka für Dienstleistungen. Dabei profitierte man von der Dekadenz der einstigen Hauptstadt Rio de Janeiro, die seit der Verlegung der Regierung nach Brasília im Jahr 1960 stetig an Bedeutung verlor.

Globaler Trendsetter

Auch Brasiliens Börse siedelte nach Sao Paulo um, und mit ihr die meisten nationalen und internationalen Finanzinstitute. Nahezu 90 Prozent der größten Banken Brasiliens haben heute ihren Hauptsitz in Sao Paulo, und die Börse ist mittlerweile die achtgrößte der Welt.

Wer in Brasilien Fuß fassen will, muss hierher kommen, das ist heute die unumstrittene Regel für transnationale Wirtschaftsunternehmen. Weltweit führende Softwarefirmen haben ihre Head Quarters für Lateinamerika nach Sao Paulo verlegt und die Stadt damit an das Global Village des digitalen Zeitalters angedockt.

Die Stadt ist wie keine andere in Lateinamerika mit den führenden Metropolen der nördlichen Halbkugel vernetzt, sie ist zu einem globalen Trendsetter aufgestiegen. Nicht schlecht für ein kleines Piratennest, das vor noch nicht allzu langer Zeit inmitten der Nebelschwaden der Serra do Mar vor sich hin dümpelte.

Text: Thomas Milz