Die "Café Sonntag"-Glosse von Armin Thurnher
Musikgeschmack
Die Wand in meinem Büro ist undicht. Schallundicht, um genau zu sein. Die hinter der Wand müssen über sich ergehen lassen, was ich so höre. Es sind zwei Kollegen aus dem Feuilleton, der Moderne in Kunst und Theater aus Beruf und Neigung zugetan. Nackte Menschen, die durch Abfall robben, ejakulierende Penisse und knapp vor ihnen zerschmetterte Melonen sind ihr täglich Brot.
30. September 2013, 17:35
Bei Musik jedoch sind die beiden heikel. Wir haben vereinbart, dass sie mich informieren, wenn sie etwas nervt. Bach und Mozart – kein Problem. Ab der zweiten Wiener Schule wird es hingegen heikel. Boulez, Eötvös, Furrer, kurz, zeitgenössische Musik ruft eine entschiedene und sofortige Reaktion hervor: Bitte aufhören, das stört. Das halten wir nicht aus, das ist – sie gebrauchen das Wort, ich schwöre es – atonal. In der Musik ist ihre Zeitgenossenschaft, ihre Modernität außer Kraft gesetzt.
Gibt es so etwas wie Musikgeschmack? Kann man Musik überhaupt schmecken? Manche können gewisse Arten Musik nicht riechen, aber Musik sollte man doch zuerst hören. Musikgeschmack dient als Vorwand, genau das nicht zu tun. Es kann ja sein, dass eine Strömung zeitgenössischer Musik die Vorliebe des Publikums verfehlt; genauso aber kann es sein, dass das Publikum seinen Geschmack nicht mehr bildet, sondern sich auf bloße Vorurteile zurückzieht.
Popfans sind in der Regel das engstirnigste und dogmatischste Publikum. Zum Pop gehört auch die sogenannte volkstümliche Musik, keinesfalls jedoch die sogenannte Muzak, die als Nervenattacke gesetzlich verboten gehört. Über Klassik können Popfans nur lachen. Klassikhörer wiederum sind sich zu gut für Pop. Pop ist für Zwanzigjährige, die im Schlamm zelteln, um sich einen Gehörschaden zuzuziehen.
Jazzfans mögen sich für avancierten Pop und auch für Klassik interessieren, bei neuer Musik passen meist auch sie. Die Hörerinnen von World-Music fühlen sich so weltoffen, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, ihnen fehle etwas. Dem Publikum Neuer Musik – so etwas gibt es – traue ich am ehesten zu, sich für alle Formen von Musik zu interessieren, wenngleich Teile dieses Publikums Klassik und Pop bloß verachten.
Wolfram Siebeck, der bekannte deutsche Fresspapst, dieser Tage 85 Jahre alt geworden, hat ein Haus verfressen, um seinen Geschmack zu bilden. Goethe gab für seine Bildung Millionen aus. Man muss also Geld in Konzertbesuche und Tonträger investieren, in Musik aller Art, und muss hören, hören, hören. „Unerhört!“ war oft genug die erste Reaktion des Publikums, aber die Stücke wollen immer wieder gehört sein, damit sie sich erweisen.
Nur der Vielfraß wird zum Kenner. Ihm geht es nicht um Distinktionsgewinn, sondern um Distinktionsfähigkeit. Musikgeschmack ist durch Erfahrung geschärfte Urteilsfähigkeit. Musikgeschmack bedeutet nicht die Fähigkeit zu genießen, sondern das Vermögen zu unterscheiden. Hat man dieses, stellt sich jene ein. Und Trennwände erübrigen sich.