Büchlein von Moacyr Scliar
Kafkas Leoparden
Moacyr Scliar, der im Jahre 2011 im Alter von 74 Jahren starb, konnte auf ein umfangreiches Oeuvre verweisen. Mehr als 80 Bücher hat er verfasst und galt als einer der beliebtesten Schriftsteller Brasiliens.
27. April 2017, 15:40
Wie so viele seiner Generation war er in jungen Jahren ein Anhänger linker Gruppen. Später dann wurde der desillusionierte linke Kämpfer ein beliebtes Sujet seiner Romane. 1973 zum Beispiel erschien "Die Ein-Mann-Armee". Da beschreibt Scliar einen verhinderten Revolutionär, der halb verrückt in seinem Schrebergarten für eine neue Gesellschaft kämpft. Unterstützt wird er dabei von der "Genossin Ziege" und dem "Genossen Schwein."
Eine verhinderte Revolution und ein Möchtegern Kämpfer stehen auch in Mittelpunkt von Scliars im Jahr 2000 erschienen Buch "Kafkas Leoparden". Benjamin Kantarovitch, genannt Ratinho (das Mäuschen) wird im Jahr 1916 mit einer schwierigen Mission beauftragt. Sein im Sterben liegender Freund ersucht ihn, nach Prag zu fahren und dort einen Dichter namens Franz Kafka aufzusuchen. Der würde ihm einen geheimen Text geben, den man nur mit einer speziellen Schablone dechiffrieren könne. Ratinho akzeptiert diesen Auftrag, der von niemand Geringerem als Leo Trotzki selbst stammt, verlässt sein Dorf in Bessarabien und macht sich nach Prag auf.
Natürlich geht dort alles schief, was nur schief gehen kann. Ratinho verliert seine Tasche, in der sich die Schablone zur Dechiffrierung ebenso befindet wie der Hinweis, wo man Franz Kafka denn treffen könne. Aber mit Glück und auch Geschick gelingt es dem Protagonisten doch noch, Kontakt mit dem Schriftsteller aufzunehmen. Und der übermittelt ihm auch wirklich einen Text. "Leoparden im Tempel" ist er überschrieben.
Zitat
"Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie."
Ratinho kann damit nichts anfangen. Wo soll da denn die revolutionäre Botschaft versteckt sein? Die vier Zeilen, die in diesem Roman eine zentrale Rolle spielen, hat Franz Kafka wirklich verfasst. Man fand sie im Nachlass und bis heute deuten die Kafka-Exegeten sie immer wieder neu. Tobias Döring zum Beispiel sieht darin nichts weniger als "eine Anfangsgeschichte der Moderne."
Mehr ein Skizzenheft
Enttäuscht kehrt Ratinho zurück in sein Dorf. Den Auftrag hat er vermasselt, sein Freund Jossi ist tot und ihm bleibt nichts außer ein von Franz Kafka unterschriebener Zettel. Hier könnte der Roman, in dem gekonnt Literatur, Realität und Fiktion verwoben sind, dann auch enden. Schließlich umfasst das Büchlein nicht mehr als 120 Seiten. Aber Scliar hat noch mehr vor. Auf den letzten 30 Seiten des Buches erzählt er seine eigene Geschichte - die Familie von Ratinho flieht (so wie die des Autors) vor den Pogromen nach Brasilien. Scliar handelt so nebenbei den Holocaust ab (denn eine Verkäuferin in Prag, in die sicher der Protagonist verliebt hat, stirbt im KZ) und rechnet so en passant auch noch mit der brasilianischen Militärdiktatur ab.
Für 120 Seiten ist das gar arg viel Handlung. Und deshalb mutet "Kafaks Leoparden" auch eher wie ein Skizzenheft an. Wie die Vorstufe zu einem wirklich großen Roman, der die Geschichte des 20 Jahrhunderts aus Sicht eines brasilianischen Juden erzählen hätte können. "Kafkas Leoparden" ist eine unterhaltsame Fingerübung, ein Buch, das wie selbstverständlich die literarischen Versatzstücke der Postmoderne aufnimmt und spielerisch leicht neu zusammensetzt. Ein Büchlein über Leben, Tod, Revolte und die Unmöglichkeit, einen Text jemals vollständig durchdringen zu können.
Service
Moacyr Scliar, "Kafkas Leoparden", deutsch von Michael Kegler, Lilienfeld Verlag