Novemberpogrome: Gedenken verändert sich

Heute jährt sich die "Reichspogromnacht" des Jahres 1938 zum 75. Mal. Im Zuge dieser Novemberpogrome zerstörten aufgehetzte Nationalsozialisten tausende Geschäfte, religiösen Stätten und Wohnhäuser der jüdischen Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich. Zehntausende Juden und Jüdinnen wurden inhaftiert und in der Folge in Konzentrationslager gebracht. Die Zahl der Zeitzeugen wird stetig kleiner. Ein Umstand, der die Erinnerungskultur in Österreich verändern wird.

Mittagsjournal, 9.11.2013

Beginn der systematischen Verfolgung

Am 7. November 1938 schoss der 17-jährige Herschel Grynszpan in Paris aus Protest gegen die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath. Für den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels war dieses Attentat der formale Vorwand, in der Nacht vom 9. auf den 10. November reichsweite Pogrome zu inszenieren, präsentiert als eine vermeintliche Reaktion des "spontanen Volkszorns".

Mit der "Reichspogromnacht" beginnt die systematische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, erläutert Heidemarie Uhl, Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: "Das Novemberpogrom gilt heute als der Übergang von einer Phase der Diskriminierung, der Ausgrenzung, der Diffamierung der jüdischen Bevölkerung, hin zu einer systematischen, von oben durchgeführten Verfolgungspolitik. Es war ein ganz wichtiger Schritt zur Radikalisierung der antijüdischen Politik des NS-Regimes."

"Vater von Gendarmerie verhaftet"

Nur wenige Verfolgte des NS-Regimes können heute noch von den Ausschreitungen im November 1938 berichten. Zu ihnen zählt der heute 84-jährige Walter Fantl-Brumlik, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat.

Die Familie wohnte damals im niederösterreichischen Bischoffstetten, wo sie ein Geschäft besaß. "Die SA ist am 9. November am Abend an unserem Geschäft vorbeimarschiert und hat gesungen: 'Jude verrecke' oder 'Wenn das Judenblut vom Messer spritzt'. Mein Vater wurde am 10. November von der Gendarmerie verhaftet, ins Gemeindeamt gebracht und dort festgehalten bis zum Abend oder einen Tag lang, ich kann es nicht mehr genau sagen. Aber auch in dem kleinen Ort waren sie präsent", erinnert sich Fantl-Brumlik.

"Tempel ausgeraubt und alles verbrannt"

Vilma Neuwirth erlebte die "Reichspogromnacht" in Wien, als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter.

Das Wohnhaus der Familie im zweiten Bezirk wurde von Nationalsozialisten beschmiert, das Friseurgeschäft des Vaters im gleichen Gebäude beschädigt. "Ich war zehn Jahre alt. Ich war nur dabei in der Pazmanitengasse, als die Leute den Tempel ausgeraubt und alles auf der Straße verbrannt haben. Sie haben ihn nicht sprengen können, weil er sich in der Mitte einer Häuserzeile befand", schildert Neuwirth das Erlebte.

Gedenken bald ohne Zeitzeugen

Dass sich das Gedenken an die Verbrechen der Nationalsozialisten ohne Zeitzeugen verändern wird, steht für die Historikerin Heidemarie Uhl außer Zweifel: "Auch die Frage, wenn wir uns zum Beispiel Gedenkfeiern mit Zeitzeugen ansehen, was wird sein, wenn sie nicht mehr da sind? Das heißt nicht, dass wir jetzt das Geschichtswissen verlieren, sondern wir verlieren den Blick in ihren Augen, wie sie die Dinge erlebt haben."

Eine generationenübergreifende Erinnerungskultur dennoch aufrecht zu erhalten, zählt zu den zukünftigen Herausforderungen für Geschichtswissenschaft und Gesellschaft.