Tabu

Ferdinand von Schirachs neuer Roman "Tabu" ist bislang kontrovers besprochen worden - anders als seine von ihm selbst "Storys" genannten kriminalistischen Fallgeschichten, die unter den Titeln "Verbrechen", "Schuld" und "Carl Thorbergs Weihnachten" erschienen.

Hier interessierte besonders die Abgründigkeit der geschilderten Charaktere und wie der Autor als prominenter Anwalt den Umgang mit ihnen verkraftet hat. Auch bei von Schirachs erstem Roman "Der Fall Collini" ging es eher um die hinter der Fiktion stehenden Tatsachen, denn der Autor, Enkel des Nazi-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach, klagte darin die Nachlässigkeit und Milde der deutschen Nachkriegsjustiz gegenüber den überlebenden Tätern an. "Tabu" ist das erste vollfiktionale Buch des Strafverteidigers. Es gibt nichts mehr hinter oder neben dem Buch zu besprechen. Hier geht es einzig und allein um das literarische Vermögen Ferdinand von Schirachs.

Ein Ozean mit vielen Inseln

"Tabu" enthält alles, was ein Roman braucht: einen Helden in existenziellen Nöten, lebenssatte Metaphern, zarte und kernige Sätze, kauzige Nebenfiguren, Verzweiflung, Liebe, Tod, und er ist spannend. Aber der Roman enthält auch Lücken, Lücken, die so groß und tief sind, dass die Phantasie des Lesers sie nur mit Mühe überbrückt. Lücken im Plot, Lücken in der Darstellung der Figuren, Lücken in der Erinnerung des Helden. Was bei von Schirachs Kurzgeschichten noch gut funktionierte: seine knappen Andeutungen, Charaktere, die er nur anreißt, Brüche im Plot, das bewährt sich in der Langform nicht. Der Roman "Tabu", als Landschaft gesehen, ist ein Ozean mit vielen Inseln darin. Die Wasser sind schwarz und tief und wir, die Leser, springen von Insel zu Insel und versuchen dabei, unterirdische Verbindungen zu erspähen.

"Tabu" ist die Geschichte des Sebastian von Eschburg, Spross einer adligen, inzwischen verarmten Familie im Bayerischen. Sebastian ist Farb-Synästhetiker und später wird er als Fotokünstler Karriere machen, immer auf der Suche nach einer Erklärung, wieso das Leben ihm keinen Halt bietet. Er beginnt mit Bildern zum Thema Schönheit und Begehren, aber die Schönheit, von der Dostojewski behauptet hatte, dass sie die Welt retten könne, langweilt von Eschburg bald. Er empfindet sie als leer und banal. Also versucht er es mit Hässlichkeit, Gewalt, Tod. Er inszeniert einen Mord, legt Spuren aus, lässt sich festnehmen und kommt vor Gericht. Sebastian von Eschburg ist ein Künstler, der den gesamten Justizapparat aktiviert, um etwas über sich zu erfahren.

"Die romantische Idee eines Künstlers ist ja, dass er die Welt um sich selbst zu Kunst macht", meint Ferdinand von Schirach. "Und wenn man davon überzeugt ist, dass die Kunst immer auf der Suche nach Wahrheit ist, und sich dann fragt, welche gesellschaftliche Institution sich noch mit Wahrheit beschäftigt, also welche große gesellschaftliche Institution, kommt man unweigerlich auf das Gericht. Und zu zeigen, was die Wahrheit im Gericht ist, ist ja auch zu zeigen, was die Wahrheit einer Gesellschaft ist, und deswegen benutzt er sozusagen die Mittel der Justiz, um sein Kunstwerk zu vollenden."

Was ist Schuld?

Aber welche Wahrheit sucht von Eschburg? Die eine Frage, die in dem Roman immer wieder gestellt wird, ist die Frage nach der Schuld. Und die Aufgabe eines Gerichts ist es ja schließlich auch, über die Schuld eines Angeklagten zu befinden. Von Eschburg hat aber keinen Mord begangen, nur so getan. Und am Ende wird er freigesprochen. Also: Um welche Schuld des Protagonisten könnte es gehen?

Von Eschburg wird in gruseligen Verhältnissen groß, seine Mutter ist ein Eisblock, sein Vater ein netter Taugenichts und Trinker, der sich - der Bub ist zehn Jahre alt - mit der Schrotflinte in den Kopf schießt. Meint von Schirach vielleicht die Schuld des Kindes, das sich als Mittelpunkt der Welt und deshalb als Verursacher der Lieblosigkeit seiner Eltern ansieht? Oder ist sein Held einfach verrückt und halluziniert sich als Mörder? Wir erfahren es nicht. Von Eschburgs Verteidiger sagt am Ende des Romans auf die Frage seines Mandanten: Was ist Schuld? "Schuld - das ist der Mensch." Aber das ist eine recht allgemeine Wahrheit. Was also hat von Eschburg durch seine freche Justizperformance gewonnen? Ist er danach mit sich im Reinen?

"Ich glaube nicht, dass Kunst erlöst", sagt von Schirach. "Es ist letztlich so, glaube ich, dass alle Kunst daraus entsteht, dass der Künstler sich mit der Welt unsicher ist und diese Unsicherheit, dieses Gefühl, nicht in die Welt zu passen und dass die Welt nicht zu einem selbst passt, führt dazu, dass man versucht, die Welt zu erklären; und diese Erklärung ist dann eben die Kunst. Also die Kunst löst dieses Problem der Fremdheit in der Welt glaube ich nicht."

Experiment in drei Teilen

Von Schirach, der sagt, dass dieser Roman ihm an die Substanz ging - er habe beim Schreiben 20 Kilo verloren -, hat mit "Tabu" etwas für ihn ganz Neues versucht: "Das war ein Experiment, das kann man so sagen."

"Tabu" ist von Schirachs Flirt mit gewagteren Formen des Schreibens, mit der Psychologie, dem Trugbild, mit einem Wort: ein Flirt mit der anspruchsvollen Literatur. Tatsächlich erinnert das Buch zu Beginn an die Familienromane Edward St Aubyns, andere Stellen erinnern an Michel Houellebecqs "Karte und Gebiet". Aber von Schirachs Vorstoß ist nur teilweise gelungen. Es liegt nicht an der Sprache - von Schirach kann schreiben -, es liegt schlicht an zu vielen Lücken, die die Plausibilität des Plots insgesamt beschädigen. Der Roman hätte einiges mehr erklären sollen. Er müsste länger sein.

So wie er jetzt ist, ist er ein Experiment in drei Teilen. Teil 1 - die Kindheit des Helden ist berührend und in nuancenreicher Sprache geschrieben, Teil 2 - die justiziablen Selbsterfahrungsversuche von Eschburgs bleiben weitgehend rätselhaft, und Teil 3: die Szenen bei Gericht - hier steht der kauzige Anwalt Konrad Biegler im Mittelpunkt und von Schirach zeigt, dass er enormen Witz hat, das heißt, wo immer der Leser in diesem Roman festen Boden unter die Füße bekommt, funktioniert "Tabu". Und die Figur des Konrad Biegler hat Potenzial. Vielleicht, so stellt Ferdinand von Schirach in Aussicht, wird er mit ihm ein nächstes Buch bestreiten.

Service

Ferdinand von Schirach, "Tabu", Piper Verlag