Roman von René Belletto
Gesetzlos
Eine Klage, die man in Literaturkreisen zurzeit des Öfteren hört: die Literatur sei zu brav und zu angepasst. Gut geschrieben seien viele der neuen Bücher ja, aber es fände sich kein Platz mehr für Experimente. Alles sei zu realistisch, oder besser gesagt: pseudorealistisch.
8. April 2017, 21:58
Wer so denkt, der sollte zum neuen Buch von René Belletto greifen. Denn klar, einfach und realistisch ist hier gar nichts. "Gesetzlos" heißt der Roman. Und der Titel trifft wohl auf niemanden besser zu als auf diesen Text und seinen Autor, denn Belletto hält sich an keine literarischen Gesetze.
Alles sehr kompliziert
Nachdem sich der Erzähler im ersten Satz als "Luis Archer" vorgestellt hat, lautet der zweite Satz: "Am 6. Juni 66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren, kam ich auf die Welt." Und der dritte Satz lautet: "Am 6. Juni 66 auf den Tag genau vor zweiundvierzig Jahren schied ich aus der Welt." So weit so gut, so widersprüchlich. Wenn man dann noch bedenkt, dass der 6. Juni 66 in Ziffern 6666 bedeutet, der Name Luis Archer auf die gleichnamige, wenn auch ein wenig anders geschriebenen Detektivfigur Lew Archer hinweist und das erste Kapitel mit dem Satz endet, dass der 6. Juni 1996 der vielleicht wahre Anfang dieser Geschichte ist - oder zumindest einer der "vielen wahren Anfänge"; dann weiß man: Hier ist alles sehr, sehr kompliziert.
Dabei beginnt alles noch recht harmlos. Der Ich-Erzähler Luis Archer trifft Clara. Eine wunderschöne junge Frau, die so wunderschön ist, dass Belletto gar nicht genug davon bekommen kann, ihre Schönheit zu besingen. Aber dann auf einmal ist Clara verschwunden. Luis Archer macht sich also auf die Suche nach ihr. Hier wird die Boy Meets Girl Geschichte dann zu einem Hard-boiled-Krimi. Sehr viele Menschen sterben - immer ist der Ich-Erzähler in unmittelbarer Nähe und nie wird einer der Morde aufgeklärt.
Absurditäten am laufenden Band
Auf Seite 295 fasst Belletto für den Leser noch einmal kurz zusammen, was der Held des Romans bis dato erlebt hat. Luis Archer war - wenn auch unschuldig, wie er dem Leser erklärt - in eine Kindesentführung mit Vergewaltigung und Doppelmord verwickelt. Zu Unrecht wurden dann Killer auf ihn angesetzt, denen er - so geschickt wie nur Schuldige es können, wie er sagt - entkommen ist. Der Vater des misshandelten Kindes hat vor den Augen von Archer Selbstmord begangen. Archers bester und einziger Freund wurde ermordet. Die Leiche fand - wir ahnen es bereits - natürlich unser Luis Archer. Dieser Freund wurde zwar ermordet, hat aber in letzter Sekunde seinen Mörder noch erwürgt. Zu allem Überdruss hat der Freund Archer auch noch einen Koffer mit einer Million Euro in bar hinterlassen. Als Archer das Haus seines Freundes verlässt, flüchtet er in das Nachbarhaus, das zufällig dem Onkel der wunderschönen Clara gehört. Dieser Onkel hat sich soeben umgebracht und als Archer gerade das Haus verlassen will, klingelt das Telefon und die Entführer von Clara fordern 300.000 Euro Lösegeld.
Wer meint, damit hätte die Absurdität ihren Höhepunkt erreicht, kennt René Belletto schlecht. Denn Clara wurde nicht von den vorgeblichen Entführern entführt, sondern von Außerirdischen. Renata heißt der Planet, von dem aus sich ein gewisser Axel aufmachte, um Clara zu entführen. Natürlich heißt er nicht wirklich Axel sondern Stkouspr, aber das kann ja niemand aussprechen. Der Planet Renata steckt in einer tiefen Krise. Die Gehsteige sind wie ausgestorben, die Leute gehen kaum noch auf die Straße. Es gibt kaum noch Geburten, dafür nehmen die Selbstmorde stetig zu. Die Bewohner des Planten haben kollektiv ihre Lebensfreude verloren. Und die einzige, die da noch helfen kann, ist die wunderschöne Clara.
Der Fehler ist Programm
"Gesetzlos" ist ein Roman, der den Leser ratlos zurücklässt. Die Handlung ist hanebüchen - und auch Bellettos Stil verlangt dem Leser einiges ab, denn jede Begebenheit wird sehr genau beschrieben, so als würde Luis Archer in diesem Text versuchen, sich selbst ein lückenloses Alibi zu geben. Dazu kommt, dass fast alle Protagonisten eine Leidenschaft für Musik haben - was dazu führt, dass musiktheoretische Ausführungen lang und breit abgehandelt werden; ebenso wie die verschiedensten Komponenten von High-End-Anlagen.
Aber "Gesetzlos" ist keineswegs ein misslungenes Buch. Dafür ist es viel zu gut geschrieben. Denn alle Brüche, alle Ungereimtheiten, der stilistische Mischmasch: das alles ist kein Fehler, sondern Programm. Ein Programm, das makellos ausgeführt wurde. So verwirrend die Handlung auch sein mag, Belletto nimmt den Leser in Beschlag. Und auch wenn schon relativ bald klar wird, dass sich am Ende nichts auflösen wird, liest man das Buch doch bis zum Ende. Denn wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Service
René Belletto, "Gesetzlos", aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Mälzer, Matthes & Seitz Verlag