Roman von Gunther Geltinger

Moor

"Nichts im Moor wird sozusagen zur Gänze verdaut, es ist eine Anhäufung von halbverdauter Zeit, halbverwestem Leben, also tatsächlich eine erzählende Landschaft." Diese Moorlandschaft fasziniert Gunther Geltinger, so sehr, dass er ihr einen ganzen Roman gewidmet hat.

"Moor" heißt das Buch und das Moor spielt tatsächlich eine wichtige und höchst ungewöhnliche Rolle: Es tritt als Erzähler auf, es berichtet und beobachtet, und dadurch erhält Geltingers Roman einen ganz außerordentlichen Tonfall:

"Es war ein sehr wilder Erzähler, ein wuchernder Erzähler, aber dadurch, dass er gewuchert ist, dass er Sprachvolten geschlagen hat, habe ich natürlich auch immer stärker gemerkt, das funktioniert als ein Naturerzähler", sagt der Autor. "Ich durfte mir gewisse Sachen nicht erlauben, wie zum Beispiel psychologische Deutungen, konnte mir aber auf der anderen Seite dafür sehr viel Freiheit nehmen in der Erzählstruktur."

Hinterm Nebel

Im Mittelpunkt der Handlung steht Dion Katthusen, ein Junge, der mit seiner Mutter im einem fiktiven, vom Moor umschlossenen Ort namens Fenndorf wohnt. Dions Vater kam bei einem Unfall im Moor ums Leben. Dion selbst ist ein Außenseiter, er stottert, kann sich nur schwer verständlich machen, die anderen Kinder im Dorf verspotten ihn und nur das Moor scheint ihn zu verstehen.

Maskierungen

Während Dion durchs Moor streift, Libellen sammelt und versucht, sich die Worte untertan zu machen, ficht seine Mutter Marga ihre eigenen Kämpfe aus. Malerin möchte sie sein, Bilder verkaufen, aber ihre künstlerische Karriere bleibt im Ansatz stecken. Geld verdient sie auf andere Weise: in einem als Modehaus getarnten Bordell, wo sie unter dem Pseudonym "Mina" die Freier beglückt.

"Was mir sehr wichtig war, ist, zu zeigen, dass Marga sich an Bildern abarbeitet und dabei selbst immer wieder zum Bild ihrer selbst wird", sagt Geltinger. "Nicht umsonst heißt sie im Modehaus anders, als sie als Mutter heißt, die Verkleidung, die Travestie spielt eine große Rolle, immer wenn Marga sozusagen ein Stück vorankommen will, zieht sie sich um, zieht etwas anderes an, maskiert sich sozusagen."

Inzestuöse Zwischentöne

Die Beziehung zwischen Marga und ihrem Sohn ist spannungsgeladen und schwierig: Marga hängt an Dion, will sich in ihm spiegeln - noch Jahre später sucht sie in dem Roman, den der erwachsene Dion geschrieben hat, nach der Bestätigung, dass sie eine gute Mutter war. Gleichzeitig ist ihre Liebe erdrückend und latent übergriffig, und so bringt Geltinger auch das Thema Inzest aufs Tapet, ohne dass er damit absichtlich ein Tabu hätte brechen wollen:

"Ich hatte nicht den Wunsch, dieses Tabu an die Oberfläche zu zerren, ich wusste nur oder ich ahnte, dass in dieser Konstellation viel mehr Zwischentöne herrschen, dass ich da ganz tief einsteigen kann, in dunkle, poetische Räume, es gibt inzestuöse Momente, es gibt aber auch die ganz normalen alltäglichen Momente zwischen der Mutter und dem Sohn."

"Die Frage für mich war", fährt Geltinger fort, "wann fängt der Junge an, seine Mutter zu hinterfragen, dann, wenn er beginnt, seinen Fokus auch auf die Umwelt zu richten, eigenes sexuelles Begehren zu entwickeln. Und das ist das Spannungsfeld, die Mutter muss ihren Sohn möglichst lange in diesem Biotop halten, weil sie auch mit ihm symbiotisch ist, also ich glaube, beide brauchen sich gleichermaßen, auch in der Übernähe, um dieses System, das sie haben, aufrechterhalten zu können, aber es ist dem Untergang geweiht."

Dion wird älter, entdeckt sein eigenes Begehren, für Tanja etwa, das Mädchen mit der Glasknochenkrankheit, die wie er selbst ein Außenseiter ist, aber auch für Hannes, seinen Cousin, als er nach einem Selbstmordversuch seiner Mutter bei seiner Tante untergebracht wird.

Unzuverlässiges Moor

Geltinger entwirft ein kompliziertes und psychologisch aufgeladenes Szenario, und umso bemerkenswerter ist es, dass er all das durch die Augen eines Erzählers sieht, der an psychologischen Deutungen kein Interesse hat. Das Moor ist ein unzuverlässiger Berichterstatter, der schwindelt und scherzt und betrügt und Geltinger verleiht ihm eine poetische und eigenwillige Sprache:

"Ich habe mir, nachdem der Entschluss festlag, das Moor erzählen zu lassen, sehr überlegt, wie spricht ein Moor? Spricht es karg, weil es eine karge Landschaft ist, spricht es düster-dampfig, oder spricht es zersplittert, das wäre ein Synonym gewesen zu Dions Stottern; ich habe mich einfach entschieden, die Sprache sprechen zu lassen, die letztendlich dann ich auch als Autor schreibe. Was ich schon wollte, ist, dem Stotterer Dion eine Sprachgewalt entgegenzusetzen, eine Überdosis Sprache."

Dabei hält Geltinger die Du-Perspektive konsequent durch: Das Moor spricht zu Dion und erstaunlicherweise nützt sich diese Ansprache im Lauf des Romans nicht ab, sondern bleibt durchwegs glaubwürdig - auch wenn Geltinger es damit nicht immer leicht hatte: "Das Du gebiert vor allem im Präteritum ganz absonderliche Formen, teilweise bekommt man so einen pathetischen, fast biblischen Ton, der dann auch wieder an Stellen gut funktioniert, wenn die Naturgewalt sich sozusagen über das Individuum erhebt und Gott spielt."

Die dunklen Bereiche der Literatur

Es ist ein ungewöhnlicher Roman, mal schroff, mal opulent, mal vernebelt und mal strahlend und klar, ein Roman, der sich nicht immer einfach liest aber im Gedächtnis haften bleibt. Mit voller Absicht taucht Geltinger tief in den Schmerz seiner Figuren ein, denn für ihn ist Schmerz immer auch ein Weg zu neuen Erkenntnissen:

"Ich denke überhaupt, dass die Aufgabe der Literatur ist, das Leben auf eine Art und Weise abzubilden auch in den dunklen Bereichen, auch wenn sozusagen ein Wohlbefinden sich bei der Lektüre nicht einstellt, aber doch vielleicht ein Echo, das nachhallt im eigenen Erleben und auf einmal in einer Situation wieder auftaucht, die man kennt und durch ein Buch, das man gelesen hat, auf einmal versteht."

Service

Gunther Geltinger, "Moor", Suhrkamp