Doku "Sickfuckpeople"
Gespräch mit Regisseur Juri Rechinsky
Es ist ein Film gegen das Wegschauen, mit Bildern die man lange nicht vergisst: Juri Rechinskys Dokumentation "Sickfuckpeople". Drei Jahre lang hat er dafür drogenabhängige Kinder und Jugendliche filmisch begleitet, die auf den Straßen der ukrainischen Hafenstadt Odessa leben.
8. April 2017, 21:58
Gleich in einer der ersten Szenen des Films sieht man eine Gruppe in einem kalten Kellerlokal. Ein enger Gang, spärliche Beleuchtung, ein paar Decken. Dann wird eine Spritze herumgereicht. Im Internet kursieren Zahlen, wonach etwa 700 Kinder auf den Straßen von Odessa leben. Doch je nachdem, ob von NGOs oder Politik veröffentlicht, klaffen diese Zahlen weit auseinander.
Rechinsky gliedert den Film dabei in drei Kapitel. Begleitet zuerst die Jugendlichen durch Odessa, dann einen Jungen auf der Suche nach seiner Mutter. Und schließlich eines der Mädchen, das sich verliebt hat, schwanger ist, und um ihr Kind kämpfen muss.
Der vom Österreicher Franz Novotny mitproduzierte Film wurde unter anderem schon mit dem Wiener Filmpreis, und beim Filmfestival in Sarajevo als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Ab morgen ist er in den heimischen Kinos zu sehen.

(c) Novotny & Novotny Filmproduktion
Benno Feichter: Schon wenn man sich den Film anschaut, ist es manchmal schwierig, nicht die Augen zu schließen, nicht wegzuschauen. Wie schwierig war es für Sie, diesen Film überhaupt zu drehen?
Juri Rechinsky: Mir ist es genau so gegangen! Beispielsweise die eine längere Szene mit den Drogen... ich wurde da im Nachhinein oft kritisiert. Warum zeigst du das so detailliert? Warum schwenkst du nicht weg, warum stellst du es nicht ein bisschen subtiler dar!? Meine Antwort war immer die gleiche: weil ich das so gesehen habe, als ich das erste Mal dort unten war. Ich wollte auch wegschauen, ich wollte schreien und weglaufen. Aber das wird viel zu oft gemacht... Und genau so wollte ich das auch vermitteln: Das alles zu sehen, sollte auch schwierig sein.
Im ersten Kapitel "Kindheit" beobachten sie nur, stellen keine Fragen und greifen nicht ein. Wie sind sie an die Dreharbeiten herangegangen?
Zeit und Offenheit - das waren die zwei wesentlichen Dinge. Es braucht sehr viel Zeit, um Vertrauen zu gewinnen. Und es braucht eine große Offenheit. Als ich das erste Mal zu ihnen hinuntergestiegen bin, waren sie, glaube ich, einfach überrascht, dass sich da wirklich mal jemand für sie interessiert. Ich habe mir dann gesagt, wenn ich dieses Projekt durchziehen will, muss ich die gleichen Risiken eingehen wie sie. Egal ob ich mich jetzt mit einer Krankheit anstecke oder von der Polizei verprügelt werde. Und wenn man dann drei Jahre mit den mehr oder weniger gleichen Menschen dreht, dann baut man ein eigenartiges Verhältnis auf. Man öffnet sich gegenseitig. Vielleicht könnte man es auch Freundschaft nennen, aber das wäre wohl nicht das richtige Wort.
Sie haben ja nach dem ersten Kapitel eine kleine Drehpause gemacht, wie haben sie diese Kinder dann wieder gefunden? Wo waren sie, was hat sich verändert und vor allem: waren alle noch am Leben?
Nicht alle haben es geschafft... und es hat sich teils wirklich viel verändert. Einige waren im Gefängnis, einige komplett verwahrlost. Und ja... sie wiederzufinden, das war wirklich kompliziert. Da braucht es nicht einen längeren Zeitraum, um jemanden zu verlieren. Manchmal ging man mit dem Gefühl weg, dass man jemanden vielleicht schon am nächsten Tag nicht mehr sieht, dass er einfach verschwindet. So war es beispielsweise mit Igor, dem einen Jungen aus dem ersten Kapitel. Eines Tages war er einfach nicht mehr da. Zum Paar aus dem letzten Kapitel hingegen habe ich immer noch Kontakt, und war auch über einen langen Zeitraum, über die drei Jahre des Drehs, permanent in Kontakt.
Hat die junge Frau ihr Kind bekommen, oder musste sie abtreiben?
Nein sie hat jetzt das Kind bekommen, Es ist ein Mädchen und sie hat es Vitalina genannt. Das heißt "Leben".
Wir haben schon kurz darüber gesprochen: In Kapitel 2 und 3 begleiten Sie den Jungen auf der Suche nach seiner Mutter und dann die junge Frau bis ins Krankenhaus. Als Sie da all diese negativen Reaktionen von Verwandten und ehemaligen Nachbarn erlebt haben, dem Stiefvater, den beiden Schwestern... Wie haben sie sich da gefühlt?
Nun, was den Stiefvater betrifft, da war es wirklich schwierig, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Die haben mit ihren Worten diesen Jungen komplett zerstört, und sie hatten Spaß dabei. Das war wirklich schwierig und zugleich auch gefährlich. Wir waren dann wirklich froh, aus diesem Dorf wieder wegzukommen. Und die beiden Schwestern, nun ja, das ist irgendwie komisch. Als Filmemacher bin ich froh, das so im Film zu haben, weil es einfach zwei verschiedene Perspektiven auf diese Situation sind - mit der jungen Frau, die obdachlos und drogenabhängig ist, ein Kind erwartet und dieses auch behalten möchte. Ich kann mich erinnern, wir waren anfangs sehr überrascht über die harten Worte der Schwestern. Und zugleich kann man die Schwestern in einer gewissen Weise auch verstehen, weil es natürlich sehr schwierig ist, mit so einem Menschen in der Familie zu leben.
Wie waren eigentlich in der Ukraine die Reaktionen auf den Film - bei den ersten Vorführungen in Kiew?
Nun, alle Screenings waren komplett überfüllt, einige Zuschauer standen sogar während des ganzen Films. Und die Reaktionen danach waren für mich sehr, sehr überraschend. Das war ein wirklich schöner Moment, als auf einmal um die 150 Personen zu mir kamen und sich bedankten. Und dann habe ich auch noch eine sehr schöne Geschichte gehört! Als der Film fertig war, war es lange Zeit sehr frustrierend, weil ihn viele Festivals ablehnten und ihn niemand zeigen wollte. Dann bat mich einer der Produzenten um eine Kopie für eine gute Freundin von ihm, deren Tochter weggelaufen war und auf der Straße lebte. Einige Wochen danach habe ich ein E-Mail bekommen, dass sie ihr den Film gezeigt haben und sie wieder nach Hause gekommen ist. In dem Moment dachte ich mir: Gut, vielleicht wird dieser Film nie in die Kinos kommen, aber zumindest einer Person hat er geholfen. Und mehr kann ich mir eigentlich nicht erwarten.
In der letzten Szene zeigen sie einen Jungen, wie er am Strand Möwen und Schwäne füttert. Und nach all den düsteren Szenen wirkt dieses Bild poetisch und zugleich auch sehr hoffnungsvoll. Warum haben sie sich am Ende für diese Szene entschieden?
Dafür gibt es viele Gründe, die aber alle schwer in Worte zu fassen sind. Dieser Junge, Igor, war für mich wirklich etwas Spezielles, weil er verzeihen konnte. Er hat es geschafft, den Zorn zu vergessen. Das war für mich einzigartig, wenn man bedenkt, auf wie viel Ablehnung diese Kinder stoßen, von wie viel Hass sie umgeben sind. Und auch für mich selbst habe ich nach diesem Projekt irgendeinen Funken Hoffnung gebraucht. Nicht nur im Film, sondern auch im Leben - nach der Arbeit an "Sickfuckpeople". Und diese Szene hat dann auch etwas sehr Chaotisches an sich, mit den kreischenden Vögeln, dem Durcheinander des Vogelschwarms. Da schwebt irgendwo die Frage im Raum: was nun? Was soll ich tun? Diese Frage stellt sich der Junge im Bild und auch ich habe mir diese Frage damals gestellt: Ich konnte nicht einfach zurück und einen Werbeclip oder ein Musikvideo drehen. Ich musste etwas anderes finden.