Globalisierung im 16. Jahrhundert
Kolumbus' Erbe
Die "Schwarze von Tula", eine ungewöhnliche Tomatensorte war es, die dem Freizeitgärtner Charles Mann den Anstoß zu seinem aktuellen Buch gab. Die "Schwarze von Tula" entdeckte er bei einer Ausstellung verschiedener Tomatensorten, wo man ihm erklärte, es handle sich um eine alte Sorte, die im 19. Jahrhundert in der Ukraine gezüchtet worden war.
8. April 2017, 21:58
Wie aber kam die ursprünglich aus Mexiko stammende Tomate in die Ukraine? Diese Frage führte Charles Mann schnell zu den Entdeckungsreisen des Christopher Kolumbus, zum Ursprung des transatlantischen und bald darauf auch transpazifischen Austausches.
Es begann mit La Isabela
Zu Jahresbeginn 1494 ging Kolumbus im Norden der heutigen Dominikanischen Republik auf der Karibikinsel Hispaniola an Land. Es war seine zweite Expedition über den Atlantik. Nach dem triumphalen Erfolg der ersten Expedition, von der seine Schiffe beladen mit Reichtümern zurückgekehrt waren, hatte er nun den Auftrag, einen ständigen Stützpunkt für weitere Eroberungsreisen in dem neu entdeckten Land zu schaffen. Kaum angekommen, gründete er La Isabela.
Der Kolonie war allerdings kein Erfolg beschieden. Schon fünf Jahre später wurde sie wieder aufgegeben, die Bauwerke zerfielen schnell, der Ort geriet in Vergessenheit. Zu Unrecht, schreibt Charles Mann. Denn die Gründung von La Isabela war der Beginn von Europas dauerhafter Inbesitznahme Amerikas - und zugleich leitete Kolumbus damit das Zeitalter der Globalisierung ein.
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Kinder, die am 2. Januar 1494 geboren wurden, dem Tag, an dem der Admiral La Isabela gründete, erblickten das Licht einer Welt, in der der direkte Handelsverkehr zwischen Westeuropa und Ostasien weitgehend durch die dazwischenliegenden muslimischen Länder - und ihre Handelspartner in Venedig und Genua - blockiert wurde, Schwarzafrika wenig Kontakt mit Europa und so gut wie keinen Kontakt mit Süd- und Ostasien hatte und in der die östliche und die westliche Hemisphäre fast nichts von der Existenz der jeweils anderen wusste.
Als diese Neugeborenen dann Enkelkinder hatten, bauten Sklaven aus Afrika in amerikanischen Bergwerken Silber ab, das zum Verkauf in China bestimmt war, warteten spanische Kaufleute ungeduldig auf die Schiffe, die asiatische Seide und Porzellan aus Mexiko geladen hatten, tauschten niederländische Seeleute in Angola an der Atlantikküste Menschen gegen Kaurimuscheln von den Malediven im Indischen Ozean. Tabak aus der Karibik verzauberte die Reichen und Mächtigen in Madrid, Madras, Mekka und Manila.
Export von Tabak und Malaria nach Europa
Tabak ist eines von vielen Beispielen von Transfers nach Kolumbus, über die Charles Mann schreibt. Der Erfolg des Tabaks brachte englische Investoren dazu, Anfang des 17. Jahrhunderts in große Tabakplantagen im heutigen US-Staat Virginia zu investieren. Für die Plantagen brauchte es Arbeiter, die ursprünglich ebenfalls großteils aus England kamen. Die meisten von ihnen überlebten ihre Reise allerdings nicht lange. Schätzungsweise 80 Prozent derer, die aus Europa kamen, starben nach kurzer Zeit. Todesursache: Malaria.
Auch der Malaria-Erreger war mit einem der Schiffe über den Atlantik eingeschleppt worden. Während die Europäer der Malaria reihenweise zum Opfer fielen, erwiesen sich viele Menschen aus Afrika immun gegen den Erreger. Das ebnete den Weg für den größten Menschenhandel der Geschichte. Aktuellen Schätzungen zufolge wurden zwischen 1500 und 1840 11,7 Millionen gefangene Afrikaner nach Amerika verschifft. In der gleichen Zeit sind etwa 3,4 Millionen Europäer emigriert. Auf einen Europäer, der in Amerika landete, kamen also drei Afrikaner. Das Ausbreitungsgebiet der Malaria in Amerika deckt sich nicht zufällig mit den Regionen, in denen sich der Sklavenhandel am längsten halten konnte: dem Gebiet vom Süden der USA bis Brasilien.
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Zu behaupten, Malaria und Gelbfieber seien für den Sklavenhandel verantwortlich, wäre genauso übertrieben wie die These, sie würden erklären, warum große Teile Lateinamerikas noch immer arm sind, warum in "Vom Winde verweht" die Baumwollplantagen der Vorkriegszeit auf riesigen Grasflächen lagen, warum Schottland sich mit England zum Vereinigten Königreich vereinigte oder warum die dreizehn Kolonien, die schwach und uneins waren, ihre Unabhängigkeit im Revolutionskrieg gegen das mächtige Großbritannien erstritten.
So viel räumt Charles Mann selbst ein. Um gleich im nächsten Satz zu relativieren: "Doch auch das wäre nicht völlig falsch."
Silber aus Lateinamerika nach China
Wem das zu einfach erscheint - Charles Mann macht seine Hypothesen mit viel Detailwissen zumindest plausibel. Und er beschränkt seine Untersuchung über das Erbe Kolumbus' keineswegs nur auf den transatlantischen Austausch. Was die Spanier in Lateinamerika vor allem fanden, war Silber. Dieses Silber brachten sie in großen Mengen heim ins Mutterland. Mindestens ebenso große Mengen waren aber für den Transport in die andere Richtung bestimmt. China hatte unersättlichen Appetit auf das glänzende Metall und tauschte es vor allem gegen Seide und Porzellan. Hauptumschlagplatz für die Waren war das heutige Manila auf den Philippinen. Die wichtigste Region für die Seidenproduktion und –verschiffung in China lag rund um die Stadt Yueyang am Unterlauf des Flusses Jangtse.
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... am Unterlauf des Jangtse, platzten die Dörfer aus allen Nähten, weil sich überall kleine Seidenmanufakturen ansiedelten, die Arbeiter aus anderen Teilen Chinas anlockten und ihre Erzeugnisse in ungeheuren Mengen ausspuckten. Die(se) Seide verkauften Händler aus Yueyang in Manila mit einem Gewinn von dreißig bis vierzig Prozent. Die spanischen Kaufleute verdoppelten, verdreifachten oder vervierfachten den Preis und verkauften ihre Ware in Amerika trotzdem noch dreimal billiger als die spanischen Textilien. Sogar in Spanien boten sie die Seide aus China - ein Produkt, das zwei Weltmeere überquert hatte! - billiger an als die dort hergestellte Seide.
Kopien aus China
Auf der Zwischenstation, in Mexiko, entstand eine verarbeitende Industrie: Tausende von Webern und Schneidern fertigten Kleidung aus chinesischer Seide an und verkauften sie weiter in Amerika und über den Atlantik. Der nächste Schritt der Entwicklung hört sich sehr aktuell an, passierte aber schon im frühen 17. Jahrhundert.
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Ursprünglich exportierten die Kaufleute aus Yueyang die Seide in Form von Stoffballen. Doch als sie ihre Kunden kennenlernten, sammelten sie (...) Muster spanischer Kleidungsstücke und Bezüge und fertigten in China perfekte Kopien der neuesten europäischen Moden an.
Ein- und Ausfuhrverbote, spezielle Zölle und groß angelegter Schmuggel waren die Folge. Je mehr Silber die spanischen Händler offiziell oder als Schmuggelware anboten, desto mehr wurden chinesische Bauern angehalten, Maulbeerbäume für die Seidenraupen zu pflanzen.
Die Welt von heute
Gleichzeitig mit dem Silber kamen auch neue Pflanzen nach China, allen voran Tabak, Süßkartoffel und Mais. Sie stillten teilweise Lüste und Hunger, mit ihrem Anbau änderte sich aber nicht nur die chinesische Landwirtschaft, sondern auch die Landschaft - mit manchmal katastrophalen ökologischen Folgen wie Hangrutschungen und Überschwemmungen.
Die Ausbreitung von Tabak, Malaria, Sklaven aus Afrika, Silber, Süßkartoffel oder Tomaten - das sind nur einige Beispiele, die in "Kolumbus' Erbe" facetten- und anekdotenreich beschrieben werden. Für sein Buch sprach Charles Mann mit Historikern, las in aktuellen Forschungsberichten und durchforstete selbst Hunderte alte Chroniken und Dokumente. Er reiste um die Welt und besuchte viele der Orte, an denen Europäer vor rund fünfhundert Jahren das erste Mal Kontakt mit anderen Kulturen hatten.
Der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist hat gründlich recherchiert. Platz für wortreiche, aber inhaltsarme Ausschweifungen bleibt da keiner. Auf 650 dicht mit Information gepackten Seiten legt er anschaulich dar, "wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen".
Service
Charles C. Mann, "Kolumbus' Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen", Rowohlt