Liebesroman von Per Olov Enquist

Das Buch der Gleichnisse

"Ihm bleibt nicht viel Zeit. Er sitzt fest in seinem Binnenland. Was soll er tun. Er trinkt nicht mehr. Er weiß nicht ein noch aus. Er nimmt sich zusammen", gesteht Per Olov Enquist in seinem neuen Buch, das, in der dritten Person, von einem Schriftsteller erzählt, der am Ende seines Lebens, "kurz vor der Grenze", wie es heißt, "wahrheitsgemäß Zeugnis ablegt vor allen".

"Das Buch der Gleichnisse" ist, auch wenn es im Untertitel "Ein Liebesroman" heißt, keine fiktive, sondern eine autobiografische, eine sehr persönliche Geschichte: die Geschichte eines vaterlos in der nordschwedischen Provinz Aufgewachsenen, eines Schriftstellers und Trinkers; die Geschichte eines Erwachsenwerdens und einer "Wiedergeburt", erzählt als Rückblick eines alten Mannes, der damit "Ein anderes Buch", wie Enquists vor fünf Jahren auf Deutsch erschienene Lebensbeschreibung heißt, fortführt und ergänzt.

"Es gab Lücken", sagt Enquist. "Es gab zum Beispiel eine Lücke – ich war 13 bis zu 20 Jahre ungefähr. In diese Lücke kommen die meisten der Liebesgeschichten, die Erfahrung des 15-jährigen Knaben. Ich hatte nicht den Plan, eine 'Selbstbiografie zwei' zu schreiben."

Notizen mit Brandspuren

"Er dachte viel an den Tod, sagte sich aber zum Trost, dies hänge sicher damit zusammen, dass alle seine Freunde im Begriff schienen zu sterben", schreibt Enquist, der Herzoperationen und Magenblutungen hinter sich hat, der "Gottes hechelnden Atem im Nacken" spürt und doch ein Projekt noch zu Ende führen will. Unzufrieden mit der vor zwei Jahrzehnten gehaltenen Totenrede auf die Mutter, die ihm zu "humoristisch" geraten sei und durch eine neue ersetzt werden soll, und inspiriert durch ein vor kurzem erst aufgetauchtes Notizbuch des Vaters, des frühverstorbenen Waldarbeiters Elof, will er sich schreibend noch einmal erinnern: an die Kindheit in einem winzigen nordschwedischen Dorf tausend Kilometer weit weg von Stockholm, an die Mutter, die Großeltern, die Verrücktgewordenen in der Familie, aber auch an die erste sexuelle Erfahrung; er thematisiert den Konflikt zwischen Liebe und Glaube und Glaube und Gewissen und vergegenwärtigt sich und dem Leser eine von strikter Religiosität, von "Sündenangst" und Verboten geprägte Zeit.

"Es gibt keine Kinos da, ich wusste nicht, was ein Film war", erinnert sich Enquist. "Kartenspiel: verboten. Fußball – wusste ich, was es war. Aber das war auch verboten am Sonntag zwischen elf und zwölf. Es gab viele Sachen, die verboten waren. Das Milieu war streng religiös. Aber so schlimm war es nicht. Man konnte ganz allein in dieser Stille sitzen und denken. Was bedeutet das Leben? Wie hängt alles zusammen?"

"Eine Botschaft von der anderen Seite des Flusses" nennt Enquist im ersten der neun Kapitel, die er "Gleichnisse" nennt, den wiedergefundenen Notizblock des Vaters, ein Block mit Brandspuren, aus dem Seiten herausgerissen waren. Warum war er im Feuer gelandet, und warum waren Blätter entfernt worden? Weil sie Gedichte über die Liebe enthielten und Liebe ein Tabu war, als Sünde betrachtet wurde, als "Schmutz des Lebens"? Jedenfalls ist Elof gelungen, woran Per Olov stets zu scheitern meint: über die Liebe zu schreiben. "Das Buch der Gleichnisse" ist ein Buch über einen, der nicht nur Holzfäller war, sondern Poet und Liebender, und der dem Erzähler stets ein Rätsel geblieben ist: den Vater.

"Ich weiß überhaupt nichts von meinem Vater, ganz wenig", erzählt Enquist. "Er war früh gestorben, ich war sechs Monate. Ich habe vielmals meine Mutter gefragt, wie war mein Vater eigentlich? Und sie hat gesagt, oh, so ein phantastischer Mann, er sitzt da im Himmel... Sie war prinzipiell stumm in Beschreibungen von meinem Vater. Also: gut, schön, christlich usw. Aber das sagt ganz wenig."

Tragische Familienschicksale

"Der Glaube war die Form von Verwirrung, die die Verdammten, die es nach der Liebe dürstete, oder nach dem Frauenkörper, retten sollte", schreibt Enquist – und stellt den Strenggläubigen, die, wie es heißt, "vor Liebe zum Erlöser kochten", die wirklich Liebenden, Irregewordenen und vom Glauben Abgefallenen gegenüber. Er schreibt über die Großmutter des Vaters, die in drei Monaten sechs ihrer Kinder verlor, verrückt wurde und die Wände ihrer Kammer mit Wörtern vollkritzelte. Über die Großkusine, die die erzwungene Trennung vom "verbotenen" Verlobten nicht verkraftete und im Irrenhaus landete. Über die krebskranke Tante, die zu der Gewissheit gelangte, "dass das mit dem Erlöser nichts für mich ist" - "weil er sich nicht um mich kümmert", wie sie sagte. Oder über Siklund, den Cousin, der, so Enquist, "beinahe alle Züge von ihm selbst" hatte, der sich "geradezu krankhaft in seine Bücher hineingesteigert" hatte - und sich mit einer Plastiktüte erstickte.

"Das Buch der Gleichnisse" handelt von tragisch-traurigen Familienschicksalen – aber auch und vor allem von der sexuellen Erweckung eines 15-Jährigen. Im "Gleichnis von der Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden" schildert Enquist die Begegnung mit einer 51-jährigen Frau aus der Stadt und den ersten Liebesakt - auf dem Küchenboden des "Larssonhofes". Dieses Erlebnis wird er später als "religiösen Durchbruch" bezeichnen, als "das vielleicht stärkste religiöse Erlebnis seines Lebens (...), vielleicht das einzige, das ihn dazu gebracht hatte, trotz allem am Glauben daran festzuhalten, dass es das religiöse Wunder wirklich gab und dass es ihm einmal helfen würde zu überleben."

Enquist, der auch schreibt, "sein Glaube war schon abgeblättert, als er neunzehn war", verwendet immer wieder Begriffe wie Glaube, Sünde, Schuld, Erlösung, Erweckung, Wunder, Wiedergeburt – religiöse Begriffe, die er freilich nicht in einem christlich-orthodoxen Sinn verstanden wissen will:

"Zum ersten Mal seit den 50er Jahren habe ich noch einmal die Bibel gelesen. Das ist eine furchtbare Lesung, besonders das Alte Testament. Aber ich bin mehr und mehr interessiert an den sogenannten gnostischen Schriften. (...) Also diese Gnostiker – ich fand es schön, dass sie sagen, es existiert kein Gott da oben. Du hast den Gott hier. Hier ist er. Und so kann man sich noch einmal interessieren für Religion, auch Christentum. Ich glaube nicht an diesen Gott da oben. Ich glaube nicht an eine Hölle. Ich glaube nicht an ein ewiges Leben. Langweilig, ungeheuer langweilig. Aber diese Fragen kommen noch einmal, aber mit anderen Akzenten."

Selbsterforschung

"Als ich Kind war, lernte ich, dass es trotz allem einen Typ von Dichtung gab, der nicht Sünde war. Es waren die Gleichnisse der Bibel", schreibt Enquist, sein Arbeitsbuch zitierend. "Ich habe nie Poesie schreiben können", bekennt er, "wenn ich nur ein Gleichnis schreiben könnte". Ein Gleichnis - das ist für ihn eine "wahre Erzählung aus dem Leben". Indem er Schlüsselmomente seiner Existenz erinnert und dabei litaneihaft bestimmte Begriffe, Formulierungen und Motive zitiert und wiederholt, wird die Erinnerung zum Akt der Sinngebung - und Schriftstellerei zur "Gleichnisarbeit". Sie bannt die Kontingenz des Daseins, stiftet Zusammenhang, wirkt beruhigend. "Er hat keine Angst vor dem Tod. Aber der Weg dahin macht ihn immer erschrockener", so Enquist, für den dieses Buch nicht das letzte sein soll:

"Ich bin 79 Jahre, ich habe bestimmt nur drei oder vier Jahre mehr zu leben. Vielleicht fünf, höchstens sieben. Und dazu habe ich ein paar oder drei, vier Projekte, also Romane, die ich unbedingt schreiben muss. Es dauert zwei oder drei Jahre pro Roman. Also ich muss wählen. Das ist so eine komische existenzielle Situation. Man denkt an den Tod."

"Das Buch der Gleichnisse" ist ein Buch der Selbstkritik, Selbsterforschung und Selbstzweifel, ein Rechenschaftsbericht. Den "größeren Teil der achtziger Jahre" war er "hauptsächlich sturzbetrunken" gewesen, bekennt er und nennt seine Befreiung vom Alkohol eine "Wiedergeburt". Er klagt, er habe sein "Pfund" vergeudet, und fragt: "Hatte er jemals getaugt?" "Das Buch der Gleichnisse" ist düster, melancholisch, emphatisch, klagend, selbstironisch, leise und pathetisch zugleich; kein chronologisch-linear erzähltes Memoirenwerk, sondern eine episodenhafte Geschichte voller Andeutungen, Abschweifungen und Variationen, Zitate, Fragen und Wiederholungen.

"Das Buch der Gleichnisse" ist ein Buch auch über die Liebe, aber ist es ein Liebesroman? Jener Frau, der er die meisterhaft geschilderte sexuelle Initiation verdankt, der er es verdankt, dass ihm einst auf dem "astfreien Kiefernholzboden" der wahre "Sinn des Lebens" offenbar wurde, wie er sagt, ist er nur noch zwei Mal begegnet, das zweite Mal auf ihrer Beerdigung. Dort sprach ihn ihre Nichte an, gestand, dass die Tante einige seiner Bücher gelesen und manches ganz gut, anderes zu undeutlich und zusammengekleistert gefunden habe. "Sie sollten einmal einen richtigen Liebesroman schreiben, den würde ich auf jeden Fall lesen", sagte das Mädchen. "Ich kann keine Liebesromane schreiben", erwiderte damals Enquist trotzig – und nennt sein Buch jetzt: "Ein Liebesroman".

Service

Per Olov Enquist, "Das Buch der Gleichnisse. Ein Liebesroman", aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt, Carl Hanser Verlag