Eine unvollendete Geschichte
Europas Einigung
Das Kuriose an Europa ist, dass man es nicht einmal geografisch definieren kann. Europa ist jener Erdteil, der sich über das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse erstreckt, ist aber kein eigener Kontinent, wie gern behauptet wird.
8. April 2017, 21:58
Europa ist ein Subkontinent, wie Indien zum Beispiel. Dieser Subkontinent ist allerdings ein in seiner Kleinteiligkeit, ethnischen und kulturellen Vielfalt und historischen Wirkkraft einzigartiges Gebilde, das - und das ist die Crux seit Jahrtausenden - die inneren Spannungen in einer Vielzahl von Kriegen zu lösen versucht hat.
"Eine Art föderativer Verbindung"
Bis 1945 konnte man von einer europäischen Identität überhaupt nicht sprechen. Es gab regionale und seit dem späten 19. Jahrhundert nationale Identitäten, die sich jedoch aus der Abgrenzung herleiteten. Es gab keine Veranlassung, über Integrationspolitik nachzudenken, auch nicht nach Siegen oder Niederlagen. Dass sich im Mai 1948 in Den Haag Repräsentanten aus 28 europäischen Ländern zu einem Kongress zusammenfanden, um, wie es hieß, "über eine Art föderativer Verbindung" zu diskutieren, war nur vordergründig eine Lehre aus dem zurückliegenden Weltkrieg.
Die Paneuropäische Bewegung Richard Coudenhove-Calergis, die anfangs noch eine wichtige Rolle spielte und der tatsächlich noch eine Friedensunion vorschwebte, geriet rasch ins Abseits, da England, Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht souveräne Deutschland zwei wesentliche Ziele verfolgten: den Einfluss der Amerikaner zu verringern und sich gegenseitig unter Kontrolle zu halten. Das hatte weniger mit Frieden, sondern vielmehr mit Marktstrategie zu tun.
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Die nationalen Märkte in Europa wurden - je länger, desto deutlicher - für rationale Produktionsweisen zu eng. Ihre wechselseitige Abschottung war nur temporär und sektoral sinnvoll. Langfristig führte sie zu einem Verlust an Produktivität.
Durch die Bank technokratische Entscheidungen
Dass das gemeinsame Europa als Friedensprojekt begonnen habe, sei ein oft und gern wiederholter Mythos, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun habe, sagt der Historiker Wilfried Loth. In seinem Buch beschreibt er den Prozess der europäischen Einigung vom Haager Kongress bis zur Osterweiterung, sowie das europäische Krisenmanagement während der Euro-Krise als schwerfälligen, oft widersprüchlichen, jedoch konstant vorangetriebenen Ablauf technokratischer Entscheidungen.
Das ist auch schon der entscheidende Punkt: von der Gründung der Montanunion 1951 über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958, die verschiedenen Erweiterungsschritte bis hin zur gemeinsamen Währung vollzog sich der Ausbau der Europäischen Union weitgehend ohne Beteiligung der Bürger. Mit gutem Grund. Denn wie eine europäische Gemeinschaft aussehen und wie sie organisiert sein sollte, war von Anfang an unklar.
Nationale Interessen vs. globale
Die Vorstellungen wechselten mit den Protagonisten. Ob das De Gaulle, Mitterand oder Chirac in Frankreich, Churchill, Thatcher oder Blair in England, Adenauer, Brandt oder Kohl in Deutschland waren: nationale Interessen verschmolzen mit globalen und kaum je waren die langfristigen Auswirkungen abzuschätzen. Konrad Adenauer misstraute dem eigenen Volk, das vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zum Nationalsozialismus in permanentem Misstrauen gegenüber den Franzosen oder Engländern geschult war. Er hatte allerdings kein Problem damit, die Brüsseler Bürokratie mit früheren NS-Kadern zu besetzten, mit Walter Hallstein etwa, der 1958 der erste Kommissionspräsident wurde.
Frankreich und England wollten in jedem Fall ein zu starkes Deutschland verhindern. England fühlt sich bis heute den Kontinentaleuropäern überlegen und pflegt ganz eigene Beziehungen zu den USA. Gemeinsam jedoch hatten sie das Interesse, sich von der wirtschaftlichen und militärischen Übermacht der Amerikaner zu lösen. Man wollte aus der NATO heraus, hin zu einer rein europäischen Militärstrategie, wobei die Franzosen etwa für den Kriegsfall zwischen Ost und West Deutschland als Kampfterritorium auserkoren hatten, was den Deutschen naturgemäß nicht behagte.
Partnerschaft = Erpressung
Zugleich schmiedeten Deutschland und Frankreich eine zentrale europäische Achse, die innerhalb der Union die Richtung vorgeben sollte, was andere Länder, vor allem England, mit Argwohn betrachteten. In der Politik allerdings beruht Partnerschaft auf ständiger Erpressung:
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Mitterand versuchte Kohl beim gemeinsamen Abendessen am 15. Februar 1990 auf die Bedingungen der deutschen Einheit festzulegen, die er für unerlässlich hielt: Beschleunigung der wirtschaftlichen und auch politischen Einigung Europas, Verbleib des vereinten Deutschlands in der NATO, aber keine Ausweitung der amerikanischen Kommandogewalt auf das Territorium der DDR, Bestätigung des Atomwaffenverzichts und völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.
Das war nicht nach Helmut Kohls Geschmack, doch am Ende musste er einlenken.
Störfaktor Bürger
Die europäische Einigung ist vor allem ein Strategiehickhack, bei dem sich die beteiligten Regierungen nicht in die Karten schauen lassen wollten und immer noch wollen, nicht von den Bürgern und nicht von einem europäischen Parlament. Die Einsicht, dass eine demokratische Legitimierung europäischer Politik unvermeidlich ist, hat sich mittlerweile zwar durchgesetzt, allerdings nicht auf allen Entscheidungsebenen.
Wenn es um die Banken- oder die Eurokrise geht, wenn Freihandelsabkommen mit den USA ausverhandelt und Richtlinien erlassen werden, die eher im Interesse der Wirtschaft als der Konsumenten sind, gilt der Bürger nach wie vor als Störfaktor.
Wilfried Loth beschreibt in seinem faktenreichen, mitunter aber recht trockenen Buch die Geschichte der Europäischen Einigung als im Prinzip notwendiges, im Detail jedoch fragwürdiges Projekt. Bis heute ist europäische Politik abhängig von den Fähigkeiten, Eitelkeiten und Aversionen einzelner Protagonisten. Das macht sie schwer berechenbar und langfristig nicht einschätzbar.
Zugleich hat die Europapolitik der vergangenen sechzig Jahre alte Gräben zugeschüttet, die lange Zeit als unüberwindbar galten. Dass sich durch eine verfehlte Sozial- und Sparpolitik sowie das Auseinanderdriften von Arm und Reich an anderen Stellen Risse und Spalten auftun, ist ein Umstand, mit dem die Europäische Union zunehmend überfordert ist. So gesehen haben sich die Konflikte von der nationalen auf die soziale Ebene verlagert. Über das Gewaltpotenzial, das in diesen Konflikten steckt, kann man nur spekulieren. Das Beispiel Ukraine - ein Land, das seit dem Assoziierungsvertrag von 2004 als möglicher EU-Beitrittskandidat gilt - zeigt, wie rasch das angespannte Verhältnis zwischen Eliten und Bevölkerung eskalieren kann.
Service
Wilfried Loth, "Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte", Campus Verlag