Die Geschichte Frankreichs im Takt der Pariser Métro

Métronom

Der französische Schauspieler Lorànt Deutsch, bekannt etwa durch seine Darstellung des Jean-Paul Sartre in "Les Amants du Flore", hat eine zweite große Leidenschaft: die Geschichte Frankreichs. Vor ein paar Jahren hatte er auf einem seiner Streifzüge durch Paris die Idee für ein besonderes Buch: die Geschichte Frankreichs im Takt der Pariser Métro: 21 Stationen, 21 Jahrhunderte.

Das ursprüngliche Lutetia

Die Reise beginnt gleich mit einer saftigen Enttäuschung. Jahrhunderte lang haben Historiker beteuert, Lutetia, das antike Paris, habe sich auf der Île de la Cité befunden. Auch die Tatsache, dass man dort bei Grabungen nie auch nur die geringste Spur der berühmten gallischen Siedlung entdeckte, konnte ihre feste Überzeugung nicht erschüttern. Heute weiß man dank akribisch dokumentierter Ausgrabungen, dass sich das ursprüngliche Lutetia auf dem Gebiet des heutigen Nanterre, westlich von Paris befunden haben muss. Die Kwarisii, das keltische "Volk der Steinbrüche", sind dort gut drei Jahrhunderte vor Christus, als sich das keltische K zum gallischen P wandelte, zu den gallischen Parisii geworden.

Was danach folgte, ist nicht nur Asterix-Lesern bestens bekannt. Im Jahr 52 nach Christus fallen römische Truppen ins Territorium der Parisii an den Ufern der Seine ein. Der erfahrene Kämpfer Camulogenus verliert die entscheidende Schlacht von Lutetia gegen den römischen Feldherrn Titus Labenius. Wenige Monate danach legt der Arvernerfürst Vercingetorix seine Waffen Caesar zu Füßen. Die Römer bauen das niedergebrannte Lutetia neu auf, aber nicht am ursprünglichen Platz, sondern am wesentlich verkehrsgünstigeren und von den Galliern kultisch verehrten Ort des heutigen Herzstücks von Paris, der Île de la Cité.

Von der Festung zum Palast

Die Pariser Métro als Zeitmaschine. Anhand des Netzplanes entscheidet man sich für ein Jahrhundert und damit eine Station der bewegten Geschichte Frankreichs und seiner Hauptstadt. Von der ersten bürgerlichen Revolte, den Anfängen der Universität bis zum Sturm auf die Bastille - mit viel Charme und noch mehr Leidenschaft beschreibt Lorànt Deutsch, was in seiner Lieblingsstadt bisher geschah. Vor allem die Verbindung des gegenwärtigen Erlebens in den Métrostationen mit den oft dramatischen Geschehnissen der Vergangenheit gelingt ihm ausgezeichnet.

Tief unter der Erde auf dem Weg von A nach B kann man auch vor Ort Geschichte tanken. 1968 hatte der Schriftsteller André Malraux, Kulturminister unter de Gaulle, die damals ungewöhnliche Idee, Kunst und Geschichte in die öden Gänge der Métro zu transferieren. Während "oben" die Pflastersteine flogen, wurden "unten" Pharaonen aus Ägypten und Nymphen aus der Renaissance präsentiert.

Der Name "Louvre", erfährt der Leser ein paar Kapitel weiter, stammt vom fränkischen "loewer" für "Festung". Als die Franken Ende des 5. Jahrhunderts vor Paris standen, errichteten sie ein befestigtes Lager, aus dem viele Jahre später der großflächigste Bau von ganz Paris entstand. Allein die Mutationen des Louvre von der militärischen Befestigung zum Schloss, vom Schloss zum Palast und schließlich vom Palast zum Museum sind schon ein lesenswertes Kapitel Kulturgeschichte.

Auf der "Schandleiter"

Auch über eine andere Pariser Sehenswürdigkeit erfährt man Wissenswertes. Unmittelbar vor Notre-Dame befindet sich der Fundamentalpunkt der Straßen Frankreichs, der sogenannte "point zéro", genau an jener Stelle, an der ein schlichter Pfosten mit dem Namen "Echelle de justice" stand.

Saint-Germain-des-Prés, Basilique de Saint-Denis, Châtelet-Les Halles, La Chapelle, Arts et Métiers - von Station zu Station fährt man mit dem kompetenten und eloquenten Reiseführer Lorànt Deutsch der Gegenwart entgegen.

Fahrt in die Zukunft

Weniger bekannte Details sind hier das Salz in der Suppe. 886 leisten zwölf später heldenhaft verehrte Pariser auf einem einzelnen Turm beim Petit Châtelet erbitterten Widerstand gegen die angreifenden Wikinger. Ähnlich wie vor dem Jahr 2000 fürchteten auch vor dem runden Datum des Jahres 1000 nicht nur gramgebeugte Pariser Äbte die Apokalypse - oder zumindest das Erscheinen des Antichristen.

In der Station Hôtel de Ville lernen wir den Buchhändler Nicolas Flamel kennen, der 1382 von sich selbst behauptete, der habe den Stein der Weisen entdeckt und könne unedle Metalle in reines Gold verwandeln. Sein Haus wurde Jahrhunderte lang immer wieder auf den Kopf gestellt, weil man darin einen fabelhaften Schatz vermutete. Gefunden wurde nie etwas.

Auch die jüngere Geschichte Frankreichs kommt nicht zu kurz. Seit 1848 dient der Élysée-Palast, ehemaliger Wohnsitz der Marquise de Pompadour, als Residenz des französischen Präsidenten. Charles de Gaulle hat diese Wohnstätte inbrünstig gehasst. Für einen Soldaten viel zu liebreizend fand er sie, und außerdem wäre das Essen stets kalt gewesen, weil die Küche zu weit weg lag.

Das letzte Kapitel, die Station "La Défense" führt nicht nur in die größte Bürostadt Europas und damit in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Das Wachstum der französischen Hauptstadt ist ungebremst. Das zukünftige "Grand Paris" könnte sich auch in den Westen ausdehnen und sich damit die Wiege der Stadt in Nanterre einverleiben.

Service

Lorànt Deutsch, "Métronom. Die Geschichte Frankreichs im Takt der Pariser Métro", aus dem Französischen von Lis Künzli, Propyläen