Essay zu Fernsehserien

Die Revolution war im Fernsehen

"Tony Soprano ist ein Monster. Er ist in vieler Hinsicht abscheulich", so Alan Sepinwall, der Autor. "Es gibt schon ein paar Seiten, mit denen man sich identifizieren kann. Er lebt am Stadtrand, hat Eheprobleme, weiß nicht, wie er die Kinder erziehen soll. Aber er ist und bleibt ein Bösewicht", sagt Sepinwall über die Mafia-Serie "Die Sopranos", die das Fernsehen revolutionierte.

"Und dennoch hab ich dauernd Leute getroffen, die total auf seiner Seite gestanden sind. Und jeder der sich gegen ihn stellte, war ein Widerling. Und wenn er jemanden umgebracht hat, haben sie ihn angefeuert. Yeah... go for it! Yeah!"

"Die Sopranos" spielt im wenig mondänen New Jersey, die Signation zeigt Drive-Ins, Highways, Industrieanlagen. Die Serie um den Mafia-Boss Tony Soprano nimmt im Buch des Fernsehkritiers Alan Sepinwall zu Recht eine zentrale Position ein. Diese Serie, so der Autor, machte das Fernsehen zu einem besseren Ort für mitdenkende Zuschauer. Denn nach den Sopranos kamen viele Serien mit interessanten Charakteren und erwachsenen Themen.

Im Fernsehen wie im Kino

Tony Soprano erschien 1999 nicht so einfach aus dem Nichts. Alan Sepinwall beschreibt in seinem Buch, "Die Revolution begann im Fernsehen", wie es überhaupt dazu kommen konnte.

Die Folge dieser Überlegungen waren in den 1980er Jahren etwa die Polizeiserien "Hill Street Blues", "L. A" Law" (über die Anwälte einer Kanzlei in Los Angeles) oder die Arztserie "ER - Emergency Room", mit einem jungen, feschen George Clooney.

Die Freiheit zu experimentieren

Ein weiterer Grund für die Fülle von komplexen, interessanten Fernsehserien mit hohem Produktionswert liegt an der besonderen Struktur der US-amerikanischen Fernsehlandschaft. Sie besteht aus den Networks wie NBC, ABC und CBS, aus Kabelsendern, die bei einem Paket mit der Kabelgesellschaft automatisch dabei sind; und dann gibt es sogenannte Kabel-Premium Channels, für die man extra monatliche Gebühren zahlen muss. Ein solcher ist HBO.

"Die Networks müssen sich erstens den Werbern und dann der Rundfunkaufsichtsbehörde FCC gegenüber verantworten. Und außerdem sollen sie ein größtmögliches Publikum ansprechen", sagt Alan Sepinwall. "Alle diese Regeln galten für HBO nicht. Sie verdienten an den Abonnenten. Sie sollten nur idealerweise Programm senden, das Leute dazu animiert, HBO zu abonnieren. Das Home Box Office hatte also mehr Freiheit zu experimentieren. Die Produzenten konnten also zu Tom Fontana sagen: 'Mach' nur deine gewalttätige Geschichte, die im Gefängnis spielt, wo Vergewaltigung, Drogen und Sex vorkommen. Alles, was man auf dem Network NBC nie zulassen würde."

Der Testfall war also Tom Fontanas Serie "Oz". Und dann folgte schon David Chase mit den "Sopranos", ebenfalls auf HBO. David Chase war bekannt als Autor der klassischen Detektiv-Fernsehserie "Rockford" mit James Garner. Er hatte vom Fernsehen eigentlich genug und wollte lieber Kinofilme drehen.

"Dann hatte er die Idee zur Geschichte über einen Mafioso und dessen Beziehung zu seiner Mutter", so Alan Sepinwall. "Zuerst klopfte David Chase bei den traditionellen Networks an. Aber diese hatten kein Interesse. Bei CBS hieß es, man könne doch keine Geschichte über eine Mafioso, der Psychotherapie macht, produzieren. Bei einem anderen Network wurde kritisiert, dass ein Bösewicht nicht Hauptfigur sein kann. Er müsse zumindest heimlich Terroristen bekämpfen. Bei HBO gab man David Chase freie Hand. Er hat sich gar nichts davon erwartet. Und dann wurde daraus ein Hit, der die Fernsehlandschaft veränderte."

Serien mit komplexen Charakteren

Eine Zeit lang hielt HBO quasi das Monopol auf anspruchsvolle Serien mit komplexen Charakteren und Handlungssträngen. Die Serie "Deadwood" etwa spielte im Wilden Westen, "Six Feet Under" handelte von einer Familie, der ein Begräbnisinstitut gehört.

Eine weitere HBO-Serie erreichte Kultstatus: "The Wire" von David Simon, einem ehemaligen Polizeireporter der Tageszeitung "Baltimore Sun". Kaum eine andere Serie gilt als so dicht, mit so viel Tiefgang. "The Wire" behandelt das breite Panorama der Stadt Baltimore mit chronischem Geldmangel, korrupten Politikern, Rassenkonflikten und einer Tagespresse im Niedergang.

"David Simon hat einen selbstironischen Scherz in die fünfte Staffel eingebaut", erzählt Sepinwall. "Dabei geht es um Medien. Ein unsympathischer Redakteur redet endlos über den Dickens'schen Aspekt einer langen Serie. 'The Wire' fällt mehr als jede andere Serie in die Kategorie eines Fernsehromans. Nicht, weil die Serie so viel besser ist als andere. Aber sie ist ganz besonders penibel geplant. Was man etwa von 'Breaking Bad' nicht sagen kann."

Breaking Bad

Walter White ist Chemielehrer. Er hat Lungenkrebs; kocht qualitativ feinstes Methamphetamin und wird in der Folge der Top-Drogendealer von New Mexico. Dabei geht er über Leichen. Im wahrsten Sinn des Wortes. "Breaking Bad" wurde von AMC produziert, das auch für "Mad Men" verantwortlich ist. Ein Zeichen also, dass die Konkurrenz von HBO aufgeholt hat.

"Breaking Bad", so Alan Sepinwall, ist in gewisser Weise eine Fortsetzung der "Sopranos": Wieder ein weißer Mann in mittleren Jahren, eine Mischung aus Antiheld und Bösewicht. Wie bei Tony Soprano stehen auch bei "Breaking Bad" die Fans fest auf der Seite von Walter White.

"Ich erinnere mich noch an die allererste Folge", erzählt Sepinwall. "Sie endet damit, dass Walter White zwei Männer umbringt. In der zweiten stellt sich aber heraus, er hat nur einen getötet. Der andere lebt noch. Walter White und Jesse müssen also die Leiche loswerden und den zweiten Mann umbringen. Das zieht sich über zwei Episoden. In jeder durchschnittlichen Krimiserie, ja sogar bei den 'Sopranos', wäre die Sache in 90 Sekunden erledigt gewesen. Bei 'Breaking Bad' nimmt das zwei Stunden in Anspruch."

Das langsame, geradezu bedächtige Fortschreiten der Geschichte hat zur Folge, dass man Walter White wirklich gut kennenlernt. Beim unvermeidlichen blutigen Ende, versteht man seine Beweggründe. Zumindest – fast.

Fernsehen wandert ins Internet

Die Revolution bleibt nicht stehen. Und der erste Vorbote ist "House of Cards", die Neuinterpretation einer klassisch britischen Fernsehserie. Kevin Spacey ist Frank Underwood, ein Washingtoner Politiker, der über Leichen geht. Robin Wright als seine nicht minder intrigante Frau gibt eine zeitgenössische Lady Macbeth mit unterkühltem Melodrama.

"House of Cards" ist eine Serie des Film-und-Fernseh-Streamingdienstes Netflix. Dieser stellte die beiden Staffeln jeweils auf einen Schlag komplett online. Millionen Menschen schlugen sich die Nächte um die Ohren, weil sie einfach nicht abdrehen konnten.

"Neu ist, dass die Leute sich abnabeln. Sie geben Kabelfernsehen auf, werden ihren Fernsehapparat los, und haben nur noch ein Netflix-Abo", so Sepinwall. "Ein Bekannter unterrichtet Medienwissenschaften an der University of Wisconsin. Wenn er beispielsweise über die HBO-Serien, die ich in meinem Buch angeführt habe, redet, schauen ihn die Studenten verständnislos an. Sie schauen nicht den Kabelsender HBO. 'Breaking Bad' und 'Mad Men' sind keine AMC-Sendungen. Sie kennen nur, was es auf Netflix gibt. Das ist eine mächtige Monopolstellung. Ich bin neugierig, wie sich das weiterentwickeln wird.

Die Abkehr von Kabel könnte eine unerwünschte Folge nach sich ziehen, meint Alan Sepinwall: Wenn die Kabelsender weniger verdienen, weil die Zuschauer für den Dienst nicht mehr bezahlen, woher kommt dann das Geld für die Produktion von Serien wie eben die "Sopranos", "Breaking Bad" und "Game of Thrones"?

Service

Alan Sepinwall, "Die Revolution war im Fernsehen. Essay zu den Fernsehserien Sopranos, Mad Men, 24, Lost, Breaking Bad, The Wire, Deadwood, Buffy, The Shield, u. a.", übersetzt von Tom Bresemann, Annette Kühn & Christian Lux, Luxbooks