Die überforderte Gesellschaft

Hybris

Der Autor des Buches war - bis zu seinem Austritt - CDU Politiker. Es heißt, seine Idee, statt Rente solle jeder im Alter ein einheitliches Grundeinkommen erhalten, hatte den Parteigranden um Kohl nicht gepasst. Meinhard Miegel veröffentlicht Bücher über die Grenzen des Wachstums. Sein neuestes heißt: "Hybris - Die überforderte Gesellschaft".

Auf einen Satz reduziert, steht darin: "Das was wir derzeit erleben ist keine Krise. Es ist das Ende einer Epoche".

Verbreitetes Unbehagen

Das Gute an guten Sachbüchern ist, wenn sie es schaffen, ein latentes, aber weithin verbreitetes Unbehagen, eine große Ratlosigkeit in Worte zu fassen. Meinhard Miegel, 74-jährigen Sozialwissenschaftler, ist das mit seinem neuen Buch "Hybris - Die überforderte Gesellschaft" gelungen. Dazu musste er erst einmal in der Lage sein, wahr- und ernst zu nehmen, dass viele Menschen unter dem Gefühl leiden, sinnentleerte Arbeit zu verrichten, in einem Hamsterrad zu leben, nicht mehr zum eigentlich Wichtigen zu kommen, ausgebrannt zu sein, die Welt nicht mehr zu verstehen und Angst zu haben vor etwas Namenlosem, das sich zusammenbraut.

Gelungen ist ebenfalls, wie Miegel dieses verbreitete Unbehagen mit Realitäten grundiert, also tatsächliche Anlässe in der Wirklichkeit findet, derentwegen die Vielen sich leer, ängstlich, ausgebrannt fühlen. Mit einem Satz, dass er das Große mit dem Kleinen zusammenführt. Dem Gesamt-Panorama, das so entsteht gibt der 74-Jährige Sozialwissenschaftler den biblisch klingenden Namen "Hybris" - Maßlosigkeit.

Zu den Indizien für diese Maßlosigkeit zählt er: Jahrhundertbauten, die unfassbare Summen an Steuergeldern verschlingen, während sie anscheinend nie fertig werden. Leistungssport, der nichts mehr mit Vergnügen am Körper zu tun habe, wie Miegel schreibt, sondern zu einer üblen Profitmaschine verkommen sei. Die Arbeitswelt, die nach dem Prinzip "schneller, mehr und weiter so" über die Erschöpfung der Menschen hinweggehe.

Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt?

Auch unser Bildungssystem stehe für Maßlosigkeit, sagt Meinhard Miegel: "Da wird im Grunde vom ersten Tag an gesagt: Tue etwas! Das beginnt im Kindergarten und geht dann in der Schule weiter. Bewege Dich! Carpe diem - Nutze den Tag! Nutze ihn wofür? Nutze ihn, um produktiv zu sein. Verbummle nicht die Zeit. Zeit ist Geld. Konntest Du heute nichts Besseres machen, als in den blauen Himmel hineinzuschauen und den Vögeln zuzuhören? Es muss doch eine Möglichkeit gegeben haben, etwas Produktiveres zu tun? Wenn das von einer Gesellschaft so in den Mittelpunkt gestellt wird und der Mensch bewertet wird nach dem, was er an materiellen Veränderungen in diese Welt bringt, dann wird es sehr schwierig zu sagen, aber du hast auch einen inneren Reichtum. Dieser innere Reichtum, den nutzt du ja überhaupt gar nicht. Du schaust ständig, ob es in deiner Umwelt irgendetwas gibt, was du an dich raffen kannst. Aber du fragst dich überhaupt nicht, was ist denn mit dir selbst? Kannst du denn aus dir selbst heraus etwas machen?"

Der gebürtige Österreicher Meinhard Miegel hat Philosophie, Soziologie und Jus studiert, er kennt die deutschen Christdemokraten, weil er lange Jahre Parteimitglied war, außerdem Berater eines Generalsekretärs in den 1970ern, anschließend Leiter der Hauptabteilung Politik der Bundesgeschäftsstelle der CDU. Auch mit deutschen Wirtschaftsführern pflegte er gute Kontakte, was zu Posten an der Spitze von Wirtschaftsinstituten führte oder im Beirat großer Versicherungen. Heute leitet Miegel die Stiftung "Denkwerk Zukunft" in Bonn, und ist Mitglied der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages.

Wenn nun ein in Wirtschaft und Politik so gut vernetzter Konservativer wie Meinhard Miegel ein Buch nach dem anderen gegen die westliche Wachstumslogik, gegen eine Menschen deformierende Arbeitswelt, gegen Profitorientierung und für Umweltschutz schreibt, dann lässt das aufhorchen.

"Das Ende des Wachstums kommt, weil es in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum geben kann", so Miegel. "Die entwickelten Länder befinden sich samt und sonders außerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde. Wohlhabend zu sein bedeutet bei diesen Kriterien, dass pro Kopf mindestens 700 Euro monatlich erwirtschaftet werden, dass die Schulzeit mindestens 7 Jahre beträgt, und dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei 70 liegt. Länder, die das erreicht haben - und das ist ja keineswegs ein sehr hoch gestecktes Ziel, das ist etwas, was wir für ganz normal ansehen -, befinden sich ohne jede Ausnahme nicht mehr innerhalb der Tragfähigkeit. Und alles, was nicht innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde stattfindet, ist auf mittlere Sicht zum Scheitern verurteilt. Und wir sind mitten in diesem Prozess. Es ist nur eine Frage, wie rasch uns dieses Ende erreicht. Aber es ist nicht mehr spekulativ - wird es wohl so sein oder nicht? - sondern dieses Ende wird kommen."

Das Volk auf die Wende einstimmen

Miegel sagt, auch viele Wirtschaftsführer seien nachdenklich geworden, merkten, dass ein "Weiter so" nicht mehr lange funktionieren werde. Es sei an der Zeit, auch das Volk auf eine Wende einzustimmen, denn die Zurichtung des Arbeitnehmers auf immer höhere Produktivität sei bereits jenseits des Erträglichen, ebenso die Ausbeutung der Natur und ein Leben mit dem alleinigen Ziel, möglichst viel Geld zu machen, habe zu einem inwendigen Verdorren der Menschen geführt.

Aber wie sieht es mit den Politikern aus? Werden Sie den Mut haben, eine Wende zu propagieren? "Die Politiker sind Exekutoren von verändertem Bewusstsein", sagt Miegel. "Wenn sich die Bundeskanzlerin nach Fukushima hinstellen konnte, praktisch innerhalb von Tagen, und sagen kann: Wir haben zwar gerade die Laufzeiten von Kernkraftwerken verlängert, aber dieses Erlebnis von Fukushima hat mich davon überzeugt, dass das ein Irrweg ist. Wir werden das sofort stoppen und werden jetzt einen anderen Weg einschlagen, dann hätte die Bevölkerung sprachlos da gestanden und gesagt, wovon redet die Frau denn überhaupt, was will sie denn?, wenn nicht über Jahre und Jahrzehnte der Boden bereitet worden wäre. Die Menschen waren aufgeschlossen. Sie hatten zu Hunderttausenden über diese Fragen nachgedacht. Sie hatten sich innerlich schon emanzipiert, wegbewegt von dieser Art der Energiegewinnung. Und deswegen fiel dieser Satz der Bundeskanzlerin spontan auf fruchtbaren Boden. Und Politiker, die jetzt diese Dinge sagen, mit dem Wachstum wird das nicht mehr so gehen und die Arbeit wird eine andere Rolle spielen und Ähnliches, werden gewählt werden, wenn die Bevölkerung auf breiter Basis auf diese Dinge vorbereitet ist."

Gottesbegriff einer völligen Entgrenzung

Die Frage nach dem Warum muss natürlich im Zentrum eines solchen Buches wie "Hybris" stehen. Und erst ihre Beantwortung fügt die disparaten Überforderungsbefunde zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Plötzlich wird dem Leser klar, wie Staus auf der Autobahn, spottbillige Schweineschnitzel, leere Geschäftsstraßen und die Klagen junger Studenten über das sogenanntes Bulimie-lernen - Faktenspeichern bis zur nächsten Prüfung, aber Verstehen ist nicht mehr gefragt -, alles zusammenhängt. Wie konnte es also kommen, dass sich der Westen einhellig in die Sackgasse eines maßlosen Wachstums begab?

"Wir hatten ja eine gemeinsame Grundüberzeugung. Wir kommen aus dieser abendländisch-christlichen Tradition. Das Christentum hat einen Gottesbegriff völliger Entgrenzung. Dieser Gott ist ewig. Er ist allgegenwärtig. Er ist allwissend. Er ist allmächtig. Es gibt keine Grenzen für dieses Wesen. Und dann erlahmt die Faszination dieses jenseitigen grenzenlosen Gottes, mit dem ja verbunden war die Chance auf ewige Glückseligkeit. Und die Menschen haben zunehmend gesagt: Lasst uns doch diese Entgrenzung ins Diesseits holen. Dann ist das möglicherweise die Quelle von Glückseligkeit im Diesseits. Und genau so ist es geschehen."

Meinhard Miegel ist Realist genug, zu wissen, dass eine Veränderung hin zu einer maßvolleren, weiser agierenden Gesellschaft lange Zeit brauchen wird. Aber er hofft darauf, dass der Überdruss der heute jungen Generation in den Ländern des Westens groß genug ist, um eine Wende einzuleiten. Sein Buch "Hybris - Die überforderte Gesellschaft" ist das mit Leidenschaft, an nicht wenigen Stellen sogar mit Wut geschriebene Buch eines hellwachen, kenntnisreichen Autors, ein Angebot an Menschen, die nach Erklärung suchen für die rasende Lähmung, die uns ergriffen hat.

Service

Meinhard Miegel, "Hybris - Die überforderte Gesellschaft", Propyläen Verlag

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