Wiener Festwochen: Glucks "Orfeo"
Ein starkes musikalisches Wochenende war das - vom Song Contest bis zu den Wiener Festwochen mit dem Auftakt am Rathausplatz, den "Geschichten aus dem Wienerwald" und gestern Abend schließlich die Premiere der ersten Musiktheaterproduktion: Christoph Willibald Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" in einer ungewöhnlichen Inszenierung von Romeo Castellucci, der eine 25-jährige Wachkoma-Patientin aus Lainz via Liveschaltung auf die Bühne brachte.
26. April 2017, 12:23
Morgenjournal, 12.5.2014
Starker Applaus und tränennasse Gesichter nach einer "Orpheus"-Aufführung der besonderen Art. Ein Grenzgang, der polarisieren mag, und doch ist Castelluccis Konzept für viele so scheint es, hundertprozentig aufgegangen. Es ist Karin Anna Giselbrechts Geschichte, die in Castelluccis Konzept erzählt wird. Ihr Name steht zu Beginn auf der riesigen dunklen Leinwand; davor ein Sessel, auf dem Bejun Mehta als Orpheus Platz nimmt.
Feinfühlige Reise nach Lainz
Karin Anna Giselbrecht, geboren 1989 ist ein lebhaftes und sensibles Kind, mit einer großen Begeisterung für Ballett und Musik. Mittels eingeblendeter Sätze wird der Zuschauer mit ihr bekannt gemacht, erfährt über ihre Familie, ihren Werdegang als Ballettschülerin, ihre Anfänge als Studentin und schließlich ihren plötzlichen Herzstillstand, der sie im Februar 2011 ins Wachkoma fallen lässt.
Orpheus‘ Reise zu Euridike in die Unterwelt - ist eine Reise zu ihr - auf den regennassen Straßen Wiens folgt man den verschwommenen Kamerabildern bis hin zum Lainzer Krankenhaus, wo man kurz vor dem geschlossenen Schranken verharrt. Welche Schranken wird diese Inszenierung brechen, fragt man sich, welche Tabus? Die Antwort lautet: Keine. Denn Castellucci verzichtet auf billigen Voyeurismus, bleibt feinfühlig und hochsensibel.
"Koma entspricht Orpheus-Mythos"
Text und Musik der Oper und die Bilder der Realität verdichten sich zu einem emotionalen Ganzen. "Komm ins Reich der Ruhe" - singt Christiane Karg als Euridice -und man betritt den Pavillon elf der Neurologischen Abteilung. Sätze wie "Grausames Schicksal, dem Tod entronnen" erhalten plötzlich neuen Sinn. Fast zärtlich nähert sich die Kamera langsam der Patientin. Sie hat die Augen offen, mittels Kopfhörer hört sie zeitgleich mit dem Publikum im Saal die Musik.
Das Bild des Komas entspräche dem Orpheus-Mythos auf präzise Weise, sagt Regisseur Romeo Castellucci, der Zustand des Komas sei ein Zustand des Menschlichen Wesens, obgleich ihn die Gesellschaft ignoriere und ihm nicht ins Gesicht blicken wolle. Es ist hier keine Unterhaltung, kein Spektakel und keine Dekoration notwendig, um die menschliche Fragilität, die des Lebens schlechthin sichtbar, spürbar, hörbar zu machen.
Starke Bilder, brillante Sänger
Die Bilder wirken nach, als Orpheus auf der komplett dunklen Bühne seine Arie "Che farò senza Euridice" anstimmt. Jérémie Rohrer dirigiert das Baroque Orchestra Ghent und den Arnold Schoenberg Chor. Bejun Mehta brilliert stimmlich als Orpheus, ebenso Christiane Karg, die optisch schemenhaft und im Hintergrund bleibt und auch der Regieeinfall Amor vom jungen Sängerknaben Laurenz Sartena singen zu lassen geht auf.
In der Halle E ist es totenstill, als am Schluss einmal noch - in das verklärte Landschaftsbild des Elysiums -, Karin Anna Gieselbrechts Gesicht eingeblendet wird. Die Kopfhörer werden ihr abgenommen, es wird dunkel in ihrem Zimmer. Dem glücklichen Opernende aus dem Jahr 1762 steht die Realität eines Lebens aus dem Jahr 2014 gegenüber. Stärkere Bilder sind wohl kaum zu finden.