Die unautorisierte Biographie
Kraftwerk
Was diese Musik ausmacht, wie Kraftwerk entstand und reüssierte und welche Wirkung diese Gruppe hatte und hat, das versucht der britische Musikjournalist, der seit zwei Jahrzehnten in München lebt und sich dennoch in der deutschen Sprache nicht wirklich zuhause fühlt, auf den 400 Seiten seines akribisch recherchierten, vor kurzem ins Deutsche übersetzten Buches nachzuzeichnen.
8. April 2017, 21:58
"Die beste Musik von Kraftwerk klingt so perfekt arrangiert, in der Einfachheit ihrer Rhythmen und Melodien so vollkommen, dass sie eine Schimäre von Idealen und platonischen Formen bietet, die nicht so sehr vom Menschen als vielmehr von etwas geschaffen wurde, das insgesamt nicht so menschlich und fehlbar ist", schreibt - ohne Scheu vor großen Worten - ein Kraftwerk-Fan der ersten Stunde: David Buckley. "Auf eigenartige Weise", so Buckley weiter, "scheint die Musik von Kraftwerk nur im Umfeld des Künstlichen, des Mechanischen, des Kybernetischen, des Cyborg zu existieren."
"Ich war zehn Jahre alt, als ich zum ersten mal den Song 'Autobahn' im Radio hörte", erzählt David Buckley. "Das war ein frappierender Augenblick, denn es war das erste Mal, dass ich etwas auf Deutsch hörte. Und die Tatsache, dass alles komplett elektronisch war, ohne konventionelle Instrumentierung, war wirklich aufregend für mich. Da war eine deutsche Band - die in einer für mich fremden Sprache sang, ohne Schlagzeug, ohne Gitarre, aber mit Synthesizer - das war etwas wie von einem anderen Planeten."
"Abstrakte" Musik
Die Band "Kraftwerk", die als Erfinder des Elektropop gilt und, laut Buckley, "der wichtigste musikalische Export (Deutschlands) der letzten fünfzig Jahre" ist, wurde 1970 in Düsseldorf gegründet - von dem damals 23-jährigen Florian Schneider und dem ein Jahr älteren Ralf Hütter, beide klassisch ausgebildete Musiker, befreundet mit dem Avantgardisten Stockhausen. Beide hatten zwei Jahre zuvor die "Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte" ins Leben gerufen, mit Straßenlärm und Elektroklängen experimentiert und Konzerte mit elektronisch verstärkter Musik gegeben. Den weltweiten Durchbruch schaffte Kraftwerk mit dem vierten Album 1974. "Autobahn" hieß die Platte und die gleichnamige Single-Auskoppelung - mit dem bis heute typischen "Kraftwerk"-Sound: eingängige Melodien, einfache Arrangements, pulsierende Rhythmen und ein emotionsloser Sprechgesang.
"Sie hatten kein besonderes Interesse an britischer oder amerikanischer Popmusik, mit Ausnahme vielleicht der Beatles, der Beach Boys und David Bowie", sagt David Buckley. "Ihre Musik war der Versuch, eine Art deutscher Identität wieder zu erfinden, in einer Zeit, als es nur Schlager gab und Coverbands, die wie die Hollies klangen, die Beatles oder die Rolling Stones. Ihre Musik hatte eine ganz andere Quelle - die Klassik und die deutsche Musik-Tradition. Und sie wurde mit der Zeit immer abstrakter. Wenn man 'Computerwelt' hört, klingen die Melodien knapp und sparsam, und das darauf folgende Album, 'Electric Café', wirkt noch mehr destilliert, so, als ob der Inhalt getilgt und nur noch die Beats übrig geblieben wären. Ihre Musik hat sich von 'ziemlich einfach' zu 'sehr einfach' entwickelt."
"Autobahn" ist das bis heute erfolgreichste Kraftwerk-Album, es kletterte in Deutschland auf Platz 7, in den USA auf Platz 5 und in Großbritannien auf Platz 4 der Charts. Aber auch mit "Radioaktivität", "Trans Europa Express" oder "Die Mensch-Maschine" gelang Kraftwerk Bahnbrechendes - Platten, die Maßstäbe setzten für die Musikindustrie und ungeheuren Einfluss ausübten. Musik, die programmiert klang, und doch gespielt war, mit Synthesizern, Vocodern und selbstgebastelten elektronischen, aber auch akustischen Instrumenten.
Kult um Kraftwerk
Kraftwerk wurden Kult, weil sie eine andere Art von Musik mit einer anderen Art von Performance kombinierten. Sie waren - und sind - die Antithese zum Rockstar-Klischee. Statt exaltierter, ekstatisch sich verausgabenden Solisten Maschinenmusik von Mensch-Maschinen, von einer uniformiert wirkenden, roboterhaften Combo.
"Ich kenne Leute, die Kraftwerk hassen, die sagen, das ist keine Musik, da gibt es keine Emotion", so David Buckley. "Aber es ist nur eine andere Art von Emotion. Es geht nicht um Liebe oder Herzschmerz. Wer sonst hat in den 70er Jahren Songs geschrieben über Menschen, die Cyborgs werden?"
Kraftwerk wurden aber auch Kult, gerade weil sie den Kult des Starwesens verschmähten. Sie drängten nicht in die Klatschspalten, gingen nie mit ihrem Privatleben hausieren, hassten Fotos und Interviews und ließen sich bei Presseterminen, aber auch bei Bühnenauftritten, gern von Robotern vertreten. Die wahrscheinlich "medienscheuste Band der Musikgeschichte", wie Buckley Kraftwerk nennt, erschien konsequent unangepasst, verschlossen und unberechenbar.
"Ihr Motto ist: keine Beschwerden, keine Erklärung", sagt David Buckley. "Sie haben sehr gut das entwickelt, was ich in dem Buch 'Medienphobie" nenne. Es gab zehn Jahre lang keine Fotos von ihnen. Und Ralf Hütter hat zu einem Interview lieber einen Roboter geschickt, als sich selbst interviewen zu lassen. Sie haben ihr Privatleben unglaublich abgeschottet."
Bilder beim Hören
44 Jahre nach ihrer Gründung existieren Kraftwerk noch immer, wenn auch in veränderter Besetzung. Von dem legendären Quartett Florian Schneider, Wolfgang Flür, Karl Bartos und Ralf Hütter ist nur Letzterer noch mit dabei. Heute, nach 13 Alben, von denen die letzten eher maue Kritiken erhielten, sind Kraftwerk keine Hitparaden-Band mehr, im Radio, wo einst David Buckley ihre Musik entdeckte, hört man sie eher selten - mögen ihre Konzerte auch ausverkauft und ihre Auftritte umjubelt sein.
Haben sie sich überlebt - in der schönen neuen, digitalen Klang-Welt? Sind Kraftwerk tot - oder, schlimmer noch, museal geworden, Klons ihrer selbst, die heute in der Tate Modern spielen und ihre 3-D-Visualisierungen im MoMA oder im Münchner Lenbachhaus präsentieren?
"Es gibt einen Streit bei Kraftwerk-Fans und Medien darüber, ob man heute eigentlich noch Kraftwerk sieht, oder eher ein Tribute an Kraftwerk", sagt David Buckley. "Meine Antwort ist: Wenn man in ein Kraftwerk-Konzert geht, ist das immer noch extrem aufregend. Was ich an Kraftwerk so liebe ist, dass man, egal welchen Song man nimmt - beim Hören immer Bilder sehen kann. Das ist wundervoll - eine künstlerische Synergie."
Großer Einfluss
David Buckley hat ein viele unterschiedliche Stimmen zusammenpuzzelndes Musikbuch geschrieben, das präzise die Entwicklung von Kraftwerk nachvollzieht, die Gruppe im Kontext ihrer Zeit porträtiert und auch, zumindest in Andeutungen, den großen Einfluss dieser Musik aufzeigt: auf David Bowie oder Depeche Mode, Ultravox oder The Human Leage, selbst Coldplay sind von ihr inspiriert. Ohne Kraftwerk gäbe es wohl weder Techno noch Hip-Hop, weder Synthie-Pop noch Electro-Funk.
Buckley kann aus einem immensen O-Ton-Fundus schöpfen, er hat Musikerkollegen, Weggefährten, Band- und Ex-Band-Mitglieder interviewt. Dass ihm nicht alle Kraftwerk-Protagonisten Rede und Antwort standen, ist bei einer Gruppe, die er selbst als "mediaphob" bezeichnet, kein Wunder - und gereicht dieser "unautorisierten Biographie", wie die deutsche Ausgabe im Untertitel heißt, nicht wirklich zum Nachteil. Eine etwas straffere Darstellung freilich hätte dem Buch gut getan, mehr Vertrauen in das eigene Urteil und weniger Zitiereifer.
Ist Kraftwerk "mehr Idee, Konzept, Erfindung als eine wirkliche Band - eine Band, die versucht hat, sich selbst überflüssig zu machen (...)?" sinniert Buckley und erinnert sich an anderer Stelle an ein Konzert in Liverpool, bei dem den lautesten Jubel die Roboter erhielten, was vielleicht darauf hindeute, "dass die körperliche Präsenz der Kraftwerk-Mitglieder nicht so interessant war wie der Auftritt ihrer Avatare". Wäre es also für die Band nicht sinnvoller, sich zurückzuziehen? Oder, fragt David Buckley gegen Ende des Buches, "können Kraftwerk wie das Arkestra von Sun Ra bis ans Ende aller Tage auftreten?"
"Jemand hat mir einmal gesagt, es sei durchaus vorstellbar, dass in fünfzig Jahren, wenn all die ursprünglichen Kraftwerk-Mitglieder längst tot sind, ein anderes Kraftwerk mit anderen Leuten das Projekt weiterführen wird. Eine bemerkenswerte Vorstellung, finde ich", so Buckley.
Service
David Buckley, "Kraftwerk. Die unautorisierte Biographie", in Zusammenarbeit mit Nigel Forrest, aus dem Englischen übersetzt von Henning Dedekind und Heike Schlatterer, Metrolit Verlag