Historiker: Russischer Imperialismus bis heute
Anders als Westeuropa und auf dem Balkan wird der Erste Weltkrieg in Russland bis heute kaum thematisiert- er ist ein "vergessener" Krieg im Schatten der Ereignisse, die nachher folgten: Oktoberrevolution und Gründung der Sowjetunion. Spuren des imperialistischen Großmachtdenkens, wie es zur Zeit des Zaren und danach zur Zeit der Sowjetdiktatur bestand, verorten Beobachter in Russland allerdings bis heute.
26. April 2017, 13:56
Mittagsjournal, 28.6.2014
"Krankhafte" Gefühle
Russland zieht schon Ende Juli 1914 gegen Österreich-Ungarn und Deutschland in den Krieg. Das Ultimatum Österreichs an Serbien ist für Zar Nikolaus den Zweiten als Schutzherr des slawischen Brudervolks nicht annehmbar. Zudem wittert Russland die Möglichkeit, endlich den langersehnten Zugang zum Mittelmeer zu erringen, erklärt der Moskauer Historiker Andrej Subow. Einer der wenigen Wissenschaftler, die sich mit der Zeit des Ersten Weltkriegs auseinandersetzen. In Russland ist dieser in Vergessenheit geraten, erklärt Subow: "In der sowjetischen, kommunistischen Ideologie wurde der Große Krieg, wie man ihn genannt hat, nur als Vorhut des Bürgerkriegs und der Revolution gesehen. Zudem schämte man sich, auch wenn man nicht gern darüber sprach, denn Russland hat den Krieg verloren und einen sehr umstrittenen separaten Frieden mit Deutschland geschlossen."
Das Zarenreich ist zusammengebrochen, doch Spuren des imperialistischen Großmachtdenkens verortet der Historiker Andrej Subow noch im heutigen Russland. Und verweist auf die russische Annexion der Krim: "Dieses krankhafte Gefühl zu glauben, dass es uns viel besser geht, wenn wir zusätzliches Territorium übernehmen, besteht noch immer."
Geschichte nicht aufgearbeitet
Schiere Größe und Macht sei bedeutender als etwa wirtschaftliche Entwicklung oder Modernisierung, sagt Andrej Subow. Und zwar für die russische Führung wie auch für die Bevölkerung. Grund sei, dass in Russland die imperiale Idee später mit der totalitären Sowjetideologie vermischt und weder das eine noch das andere aufgearbeitet wurde: "Damit Deutschland oder auch Österreich zu europäischen Ländern wurden, reichte ein gemeinsamer Binnenmarkt nicht aus. Man musste die Volksseele entnazifizieren, reinigen. Wenn es bis heute in Deutschland und Österreich Hitler-Straßen und Goebbels-Denkmäler geben würde, wäre wohl keine Union mit Frankreich möglich, im Gegenteil, es gäbe längst wieder Krieg."
Russland wie China oder Iran
Eine Haltung, die den renommierten Historiker seinen Job gekostet hat. Weil Subow die russische Militär-Invasion auf der Krim mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland verglichen hat, wurde er als Professor der Moskauer Diplomatenhochschule entlassen. Was ihn bezüglich der Großmacht-Politik Putins keineswegs mundtot macht: "Die Ukraine will das russische Imperium verlassen, das ist schrecklich, das will Präsident Putin verhindern. Doch es ist ihm nicht gelungen. Viele Ukrainer sagen, auch ohne Krim und selbst ohne Donbass besteht die Ukraine, und sie ist stärker als je zuvor. Nicht physisch, aber moralisch."
Russland unter Putin hingegen steuere derzeit in Richtung autoritärer Staatsmodelle wie in China oder dem Iran. Und dennoch, so hofft der Historiker Andrej Subow, werde sich auch Russland eines Tages wieder dem Westen zuwenden. Immerhin stehe man diesem trotz allem viel näher - kulturell und wirtschaftlich.