Michail Chodorkowskis Porträts

Meine Mitgefangenen

"Meine Mitgefangenen" war ursprünglich nicht als Buch geplant. Dennoch ergeben die zwanzig Zeitungsartikel, die Michail Chodorkowski für die regieru ngskritische Wochenzeitung "The Moscow Times" verfasste, ein imposantes Panorama des heutigen Russland.

Die jeweils drei- bis fünfseitigen Texte entstanden zwischen 2010 und 2013, im Gefängnis, als ein Ende von Chodorkowskis letztlich zehnjähriger Haft noch nicht absehbar war.

Genaue Beobachtung

Das Buch "Meine Mitgefangenen" ist ein Panorama Russlands - oder zumindest jenes Teiles von Russland, zu dem - wie es in der Einleitung heißt - "die meisten normalen Menschen üblicherweise keinen Zugang haben". Das Land allein aus dem Blickwinkel der sogenannten "Zonen" zu verstehen und nach den Zuständen in Untersuchungsgefängnissen und Straflagern zu beurteilen, ist Chodorkowskis Sache nicht. Für den Ex-Oligarchen und prominentesten Polithäflting der Ära Putin wäre dies wohl ein zu "spekulativer" Zugang zu jenem russischen Gefängnisuniversum, das er verhalten aufklärerisch folgendermaßen charakterisiert:

Kurz gesagt: Die Stärke von Chodorkowskis Vignetten über ein gutes Dutzend Mithäftlinge und diverse Szenen aus dem Gefängnisleben besteht in unaufgeregt genauer Beobachtung, wobei deren Verfasser auch nicht vor einer "Moral", die er aus den jeweiligen Szenen zieht, zurückschreckt. In Chodorkowskis eigenen Worten:

Zahlen und Daten werden eher en passant genannt, etwa: "Jeder Hundertste unseres Landes, jeder zehnte (wenn nicht gar siebente) Mann kommt einmal hinter Gitter."

Eigener Begriff der Ehre

Michail Chodorkowskis oberstes Prinzip ist Klarheit der Differenzierung, der Einzelfall, die paradigmatische Situation: Da gibt es etwa das Porträt des 23-jährigen Nikolaj, der wegen Drogenbesitzes schon fünf Jahre einsitzt. "Volksparagraph" heißt in Russland alles, was mit Drogen, deren tatsächlichem und vorgeblichem Gebrauch, Besitz oder Handel zusammenhängt. Nikolajs Zukunft ist leicht zu erraten. Als die Untersuchungsbehörden zur Verbesserung ihrer Statistik aufgeklärter Fälle versuchen, besagten Junkie zu überreden, auch den Überfall auf eine alte Frau zu gestehen, weigert sich der vor Gericht überaschenderweise. Eine alte Frau auszurauben würde seine Ehre verletzen. Nikolaj schlitzt sich den Bauch auf und wird gerettet. Chodorkowskis knapper wie pathetischer Schluss: "Ich schau mir diesen mehrfach verurteilten Menschen an und denke mit Bitterkeit an die vielen Menschen in Freiheit, denen ihre Ehre viel weniger wert ist.

Der Großteil der Mithäftlinge sind kleine Gauner, Betrüger - ein gewisser Woldoja hatte etwa das Pech, einen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane ums Ohr zu hauen, der sich allerdings an einen mächtigen Beschützer wandte. Die Phasen der "Gewöhnung" bei Haftantritt werden beschrieben, das Hoffen auf Amnestie und das Hadern im Falle einer abgelehnten Begnadigung oder der Moment totaler Verzweiflung, in dem ein Häftling kapiert, dass er in der Welt draußen niemanden mehr hat, der auf ihn wartet.

Der fast noch jugendliche, wegen Totschlags verurteilte Hirte Ljoscha Badajew weigert sich, Chodorkowski zu denuzieren, was die Lagerleitung von ihm verlangte. Der Ex-Manger fragt verwundert nach und bekommt zur Antwort: "Aber Sie haben mir doch nichts getan."

"Normales" Leben

Seine Erfahrungen mit Gerichten, Wachmannschaften und Verwaltungen der Strafkolonien im fernen Osten an der chinesischen Grenze und später in Karelien, deren Korruption und obskure Machenschaften ließen beim einstigen Technokraten und Pragmatiker Chodorkowski nicht nur die Überzeugung entstehen, dass sich Russland unter Putin in einen "bürokratischen Polizeistaat" verwandle; das Gefängnis erscheint ihm schließlich "als ein ins Groteske gesteigertes Modell unseres normalen Lebens jenseits der Mauern."

Beispiel dafür ist der Diebstahl einer Bonbonniere-Schachtel: Diebstahl unter Häftlingen, die gelegentlich untereinander auch teilen, ist nicht nur verpönt, er wird üblicherweise auch rasch aufgeklärt: Was wollte also der Dieb, der eigentlich alles hatte? Handelt es sich um Kleptomanie? Wollte sich der Dieb in Sicherheit fühlen? Chodorkowskis harscher Schluss aus der Episode führt aus der Gefängniswelt hinaus in die russische "Zivilgesellschaft":

Gewandter Schriftsteller

Als Michail Chodorkowski seine Gefängnisporträts verfasste, war er, der früher nie einen Gedanken an Schriftstellerei verschwendet hätte, durch Briefwechsel mit Autoren wie Boris Akunin oder Ljudmilla Ulitzkaja, zu einem gewandten Schreiber herangereift: Die Geschichte vom verwahrlosten Funktechniker Valentin, der bei der Reparatur des Fernsehers in der Zelle wieder Halt im Leben findet, oder die Unterhaltung mit einem jungen russischen Neonazi und Holocaustleugner sind geradezu literarische Meisterleistungen. Letzeren überzeugt Chodorkowski mit dem Hinweis auf ehemalige KZ-Häftlinge, deren Geschichte er selbst gehört habe: Überraschender Schluss der Episode: "Im Gefängnis zweifelt man Aussagen von Augenzeugen nicht an. Das zu tun ist eine schwere Beleidigung."

Wer keine Angst vor moralisierenden Lehrstücken hat, die bisweilen in einem durchaus altmodischen Tonfall à la Tolstoj vorgetragen sind und dennoch nicht an Imposantheit verlieren, lese Michail Chodorkowskis "Meine Mitgefangenen". Mehr als eine bloße Zeittafel zum Leben des Autors hätte das Büchlein allerdings ein ordentliches Nachwort verdient - Chodorkowski ist wie Russland komplizierter als nur schwarz-weiß.

Service

Michail Chodorkowski, "Meine Mitgefangenen", aus dem Russischen von Vlada Philipp und Anselm Bühling, Galiani Verlag