Glosse von Bea Sommersguter
Der sozialistische Bruderkuss
Die East Side Gallery am Ufer der Spree ist ein Fixpunkt unter Berlin-Touristen. Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstand hier, auf den Resten der Berliner Mauer am ehemaligen Todesstreifen, die größte Open Air-Ausstellung der Welt. Herzstück ist ein Bild des russischen Malers Dimitri Vrubel.
8. April 2017, 21:58

(c) dpa/Z5579 Robert Schlesinger
Zwei Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemdkrägen. Die faltigen Gesichter hingebungsvoll zur Seite geneigt, die Lippen auf die des anderen gepresst, die Augen geschlossen, um sich vollends der Zweisamkeit hinzugeben. Kreml-Führer Leonid Breschnew und sein Statthalter in Ostberlin, Erich Honecker, vereint im Bruderkuss. Als Vorlage diente ein Foto aus den Tagen des Kalten Krieges. Aufgenommen 1979 anlässlich der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der DDR. Damals, als die Welt des Realsozialismus' noch heil war.
Der Kuss - links, rechts, links - auf Wange oder Mund. Eine Geste, die ihren Ursprung im russisch-orthodoxen Bruderkuss hat. In die Welt getragen von der sich politisch formierenden Arbeiterbewegung. Ein Lippenbekenntnis unter Gleichgesinnten, das für Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung stand. Später eine gern praktizierte Übung unter Genossen und fixer Bestandteil bei Staatsbesuchen unter Brüdern. Manchmal auch in Form eines Judaskusses, wie geschehen 1968, als der damalige russische Ministerpräsident Kossygin den abtrünnigen tschechoslowakischen KP-Chef Alexander Dubcek abküsste - nur um ihm kurz darauf in den Rücken zu fallen und Panzer nach Prag zu schicken.
Berühmtheit erlangte aber nur diese eine Umarmung im Oktober 1979 in Ostberlin. Breschnew, der seinem Musterschüler aus dem Bruderland mit eben jenem Kuss - auf den Mund, nicht unverbindlich auf die Wange - seine besondere Verbundenheit demonstrierte. Ein Moment, den Hunderte Kameras festhielten, aber keine so grandios wie die des französischen Pressefotografen Régis Bossu. Sein Foto erschien zuerst in der "Paris Match", später noch Tausende Male in Zeitschriften weltweit.
Auch zehn Jahre später war Bossu wieder in Ostberlin, zum 40. Jahrestag der DDR, kurz vor dem Mauerfall. Auch damals schoss er ein Kuss-Foto, Honecker umarmte diesmal Michail Gorbatschow. Dieser Kuss war aber nur mehr eine lästige Pflichtübung, ein Ritual wie das Händeschütteln unter westlichen Staatsmännern. Die Münder trafen nur mehr die Wangen, die Gesichter waren ausdruckslos. Der sozialistische Bruderkuss - mehr Inszenierung als politische Geste.
Kein Vergleich zu jenem anderen Kuss, der heute Tausende Besucher an die Mauer lockt. Ein Bild unter vielen entlang der fast eineinhalb Kilometer langen East Side Gallery. Menschentrauben bilden sich aber immer nur hier, vor dem Bruderkuss. Ein beliebtes Foto-Motiv, vor allem unter schwulen Paaren - auch wenn die wenigsten wissen, wer sich da eigentlich so innig küsst.
Service
Der Spiegel - Leonid Iljitsch Breschnew küsst Erich Honecker, 4. Oktober 1979