Doppelbiografie über Rudolf Höß und seinen Jäger
Hanns und Rudolf
Die jüdischen Helden des jungen Thomas Harding in Nord-London waren Wissenschaftler und Künstler. Viele von ihnen waren Opfer der Nazis. Daher faszinierte es ihn, ausgerechnet in der eigenen Familie einen militärischen Helden zu finden. Die Biografie seines jüdischen Großonkels Hanns Alexander verflechtet er mir der des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß.
27. April 2017, 15:40
Alexander, selbst ein Opfer der Nazis, wurde unmittelbar nach dem Krieg zu einem der ersten Nazi-Jäger. Und seine wichtigste Festnahme war die von Höß, der als erster prominenter Nazi die Welt zum ersten Mal über Judenvernichtung in Auschwitz informierte.
An einem kalten Wintertag schleicht sich mitten in der Nacht ein vierfacher Familienvater namens Rudolf aus seiner Villa und betritt heimlich das kleine Zimmer seiner attraktiven Geliebten Eleonore. Als sie zusammen im Bett liegen, ertönt plötzlich Alarm, die Lichter draußen im Gang flackern. Eleonore stopft Rudolfs Uniform unter das Bett und er versteckt sich in der Ecke, um bloß nicht entdeckt zu werden. Denn der Mann ist kein anderer als Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, seine Geliebte eine österreichische Gefangene und ihr Liebesnest ist ihre Zelle im größten Konzentrationslager der Nationalsozialisten.
Herrscher über 80.000 Häftlinge
Diese erstaunliche und bisher unbekannte Szene schildert der britische Schriftsteller Thomas Harding: "Es ist ein sehr merkwürdiger Moment: Dieser Mann, der eine Todesfabrik errichtet hatte, herrscht beinahe allmächtig über einen furchtbaren grausamen Ort, wo man inzwischen zweitausend Menschen pro Stunden ermorden kann. Denn er bestimmt über das Leben und den Tod hunderttausender Menschen. Und dieser Mann betreibt heimlich Sex mit einer Gefangenen. Und dann in Panik, dass er von einem seiner Aufseher gesehen wird, versteckt er sich hinter der Tür!
Es wäre eine lustige Situation, wenn sie nicht so entsetzlich wäre. Und sie zeigt, wie brenzlig die Situation war. Ich stellte mir anfangs alles in Schwarz und Weiß vor: Rudolf Höß war ein Schurke. Aber solche Momente verdeutlichen, dass auch er ein Mensch war und sogar auf dem Höhepunkt seiner Macht verletzlich."
Rudolf Höß herrschte über 80.000 Häftlinge und über tausend Aufseher. Und er erfüllte Hitlers Geheimbefehl: Die Vernichtung der europäischen Juden.
Aus Recherche wurde Doppelbiografie
Die eingangs geschilderte Szene ist bedeutend für die Entstehung von Thomas Hardings Doppelbiografie "Hanns und Rudolf", denn diese begann als eine Recherche über seinen Großonkel Hanns Alexander und vor allem darüber, ob er wirklich Rudolf Höß festgenommen hat. So hieß es nämlich in seiner Grabrede 2006.
Harding stieß zum Beispiel auf ein Interview mit Großonkel Hanns Alexander aus dem Jahr 1996, in dem er auch über die Festnahme von Rudolf Höß berichtet hatte: "Also dieser 'Freund' von mir, Rudolf Höß, hatte eine Frau in der Kleinstadt Heide, die ich nach einer langen Suche in den Registern gefunden habe. Schließlich spürten wir ihn auf einem Bauernhof kurz vor der dänischen Grenze auf, denn wir hatten ihren Briefwechsel überwacht.
Eines Nachts fuhr ich dorthin - mit einem Chauffeur und einem Arzt -, da trat schon die nächtliche Ausgangssperre in Kraft. Er lebte unter einem falschen Namen und hatte auch die für die SS-Angehörigen eintätowierte Blutgruppe entfernt. Wir klopften an die Tür und obwohl 50 Menschen auf diesem Anwesen lebten, öffnete ausgerechnet er. Bevor er in die Zyanid-Kapsel beißen konnte, steckte ich meine Pistole in seinen Mund. Wir zogen ihn aus und der Arzt untersuchte ihn und er behauptete wiederholt, er sei gar nicht Rudolf Höß. Ich bat um seinen Hochzeitsring, er sagte, der geht gar nicht runter. 'Kein Problem', sagte ich, 'dann werden wir den Finger einfach abschneiden.' Auf der Innenseite des Rings fanden wir seine und ihre Initialen sowie das Datum ihrer Hochzeit."
Kennt man die Verwandten wirklich?
Thomas Harding kannte Hanns Alexander persönlich als einen witzigen, lebenslustigen Mann, der Kindern schmutzige Witze erzählte. Im Laufe seiner siebenjährigen peniblen Recherche in Archiven und bei Zeitzeugen - die Ergebnisse würdigt man auf jeder Seite - fragte er sich manchmal, inwieweit man seine Verwandten wirklich kennt. Deutlich wird, wie allein sich Alexander gefühlt haben muss.
Er kämpfte für eine Armee, die die Mannschaft zur Ermittlung von Kriegsverbrechen, die im früheren KZ-Bergen Belsen stationiert waren, nicht einmal mit Schreibmaschinen oder Wagen ausstattete: Diese müssten sie notfalls von den Deutschen beschlagnahmen, hieß es. Die hochrangigen Nazis waren bereits auf der Flucht und die zweitrangigen Nazis wiesen jede Schuld vor sich. Hanns Alexanders Hass stieg mit jedem Verhör, erzählt Thomas Harding:
"Es gab drei Ursachen für seine Wut: die Diskriminierung, die er und seine Familie durch die Deutschen erlitten hatte - sie wurden praktisch hinausgedrängt und einige Verwandte wurden in KZs ermordet; Er sah im Mai 1945 als junger Offizier die tausenden Leichen und halb verhungerten Häftlinge im KZ-Bergen Belsen; Drittens hatte er im Dienst viele deutsche Offiziere verhört, auch solche, die die Transporte in Auschwitz, die Selektionen und die Krematorien dort geleitet hatten. So erfuhr er aus erster Hand darüber. Sie gaben stets dem Kommandanten Rudolf Höß die Schuld dafür."
Jagd auf eigene Faust
Der jüdische Offizier Hanns Alexander beschloss, auf eigene Initiative und ohne jegliche polizeiliche Erfahrung oder taktische Hilfe, ohne Pläne oder gar Befugnis, gesuchte NS-Verbrecher zu jagen, allen voran den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Die Beschreibung dieser intensiven Suche liest sich wie ein Krimi, wobei Alexander notfalls auch vor Erpressung und Gewalt nicht zurückschreckte, wie sein Großneffe schreibt:
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Hanns brachte Höß' ältesten Sohn Klaus in das Gefängnis, in dem seine Mutter festgehalten wurde. Sie war entsetzt, als sie ihren Sohn sah. Sie muss Angst um ihn gehabt haben, doch ihre Antwort blieb die gleiche wie an den vorausgegangenen Tagen: "Ich weiß nicht, wo mein Mann sich aufhält." Aber Hanns erkannte, dass er sie am ehesten zum Reden bringen konnte, wenn er ihr deutlich machte, dass Klaus sonst in Lebensgefahr geriet.
Beschreibung konträrer Welten
Mit dieser Entdeckung wuchs Thomas Hardings Interesse für den Nazi-Verbrecher. So wurde sein Buch zu einer Doppelbiografie über zwei Männer, die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten, jedoch in ganz konträren Welten: Hanns in einer liberalen, wohlhabenden Berliner Familie, Rudolf in einer streng katholischen, armen Familie in Baden-Württemberg.
Der eine erlebte in seinem Haus berühmte Freunde seines Vaters wie Albert Einstein oder Marlene Dietrich, der andere wurde als Mitglied eines nationalistischen paramilitärischen Freikorps zu zehn Jahren Haft wegen eines brutalen Mordes verurteilt. Als der eine zur Leitung des KZs Dachau befördert wurde, floh der andere aus Nazi-Deutschland nach London.
Höß' Familie war eingebunden
Irgendwann verstand Harding, dass er nicht nur einen Helden und einen Schurken porträtieren, sondern eine vollständige Geschichte erzählen kann - mit allen Schattierungen. Um eine Nahaufnahme von Höß schreiben zu können, suchte er seine Familie - und fand sie. Mit dessen Enkelsohn Rainer besuchte er 2009 das Konzentrationslager Auschwitz:
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Ich treffe auf Rainer in den Baracken und folge ihm. Rainer fängt zu weinen an. "Es ist so schrecklich", sagt er, "was mein Großvater getan hat. Es ist so schlimm." … Wir schreiten durch einen kurzen Durchgang aus Stacheldraht … Vor uns steht der Galgen, an dem Rainers Großvater gehängt wurde, daneben das alte Krematorium. Rainer starrt sie ein paar Augenblicke an. "Dies ist der beste Ort hier", sagt er. "Dies ist der Ort, an dem sie ihn getötet haben."
Die eindringlichsten Passagen
Thomas Harding gelang es, Höß' Tochter aufzuspüren und nach anderthalb Jahren voller Bemühungen erhielt er das erste Interview mit der damals 80-Jährigen. Sie erzählte viel über ihre glückliche Kindheit in der Villa direkt an der Außenmauer des KZ-Auschwitz, wo Höß ein normales Familienleben führte. Diese privaten detaillierten Beschreibungen und Familienszenen gehören zu den eindringlichsten Passagen dieses Buches.
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Eines Tages fragten die Kinder die Näherin, ob sie ihnen Armbinden mit Abzeichen anfertigen könnte, so wie sie die Häftlinge auf der anderen Seite der Gartenmauer trugen. Klaus, der älteste, trug die Binde eines Kapos, die anderen trugen auf ihren Binden die verschiedenfarbigen und verschiedenförmigen Abzeichen - gelbe Sterne, grüne Dreiecke, gelbe Dreiecke -, welche die Gefangenen tragen mussten. Die Kinder spielten ein Spiel, bei dem sie so taten, als seien sie Häftlinge. Klaus erteilte ihnen Befehle. Diesem Spiel bereitete ihr Vater jedoch ein schnelles Ende, als er sie dabei sah.
"Hanns und Rudolf" verfolgt chronologisch in abwechselnden Kapiteln das Leben dieser so verschiedenen Menschen und zwar nicht nur plakativ als Opfer und Täter.
Höß-Geliebte Eleonore Hodys
Rudolf Höß' Liaison mit der österreichischen Gefangenen, die sich dort abspielte, blieb übrigens nicht ohne Folgen. Die 39-jährige Eleonore Hodys, die eingesperrt wurde, weil sie einen Nazi-Parteiausweis gefälscht hatte, wurde schwanger. Im Juni 1943 musste sie auf Höß' Befehl abtreiben - im sechsten Monat! Ob Hodys den Krieg überlebte und ob sie Nachfahren hatte, konnte Harding trotz seiner mehrjährigen Recherche nicht herausfinden.
Service
Thomas Harding, "Hanns und Rudolf. Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz", aus dem Englischen von Michael Schwelien, DTV-Verlag, München 2014
DTV - Interview mit Thomas Harding