Krimi von Peter May

Beim Leben deines Bruders

Der gemeinsame Sohn ist bei einem Verkehrsunfall getötet worden, die Ehe ist daraufhin in die Brüche gegangen, und seinen Job als Polizist in Edinburgh hat Fin Mcleod aufgegeben. Reif für die Insel, ohne jeden Sarkasmus. Und tatsächlich kehrt der traurige Held auch auf jene Hebrideninsel, drei Stunden vor der Nordwestküste Schottlands, zurück, auf der er aufgewachsen ist.

Außer dass er sich wiederfinden will, "bei seinen Leuten, die seine Sprache sprachen", ist ihm nicht ganz klar, was er hier will und wie das mit dem sich wiederfinden wirklich funktionieren soll. Erst kampiert er im Zelt auf dieser sturmgepeitschten Atlantikinsel, die vor allem vom Torf lebt. Dann beginnt er das verfallene Gehöft seiner Eltern wieder aufzubauen. Zaghaft. Und ebenso zaghaft knüpft er Kontakte zu den Freunden und Bekannten von früher, darunter auch die große Liebe von damals, bevor er die Insel für immer verließ, wie er damals dachte.

Torfleiche aus den 50er Jahren

So beschaulich düster das alles anhebt, so bleibt es selbstverständlich nicht im neuen Kriminalroman des schottischen Erfolgsautors Peter May. Im Hochmoor wird eine Torfleiche gefunden, bestens konserviert, und während die ersten schon eine archäologische Sensation feiern, datiert der Gerichtsmediziner den Todeszeitpunkt auf Ende der 1950er Jahre. Diagnosematerial: eine eingesetzte Gehirnplatte aus Tantal im Schädel der Leiche und ein Elvis-Presley-Tattoo auf dem Oberarm. Ein gewaltsamer Tod, soviel steht auch fest: mehrere Messerstiche und eine durchschnittene Kehle.

Die örtliche Polizei beginnt zu ermitteln, und der Held, der eigentlich sich finden will, findet sich als inoffizielles Mitglied in diesem Mini-Ermittlungsteam wieder, das den Fall klären will, bevor die Mordkommission vom schottischen Kernland her anrückt. Das ist die eine Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, die andere ist die eines offensichtlich an Alzheimer Erkrankten, der Vater der einstigen Jugendliebe.

Was geschah mit dem Bruder?

Kapitel für Kapitel, sozusagen im Gegenschnitt, lässt Peter May diese beiden Geschichten aufeinander zukommen - wobei jener Erzählstrang, in dem der im Heute und im Hier verlorene alte Mann seine Lebensgeschichte rekonstruiert, der weitaus beeindruckendere dieses Romans ist. Eine Waisen- und Heimgeschichte, wie sie zahlreichen britischen Kindern nach 1945 widerfahren ist: Früh zum Vollwaisen geworden, in ein Heim gesteckt, in dem Prügel und andere Übergriffe auf der Tagesordnung standen, im arbeitsfähigen Alter schließlich aufs Land verschickt, in jenem Fall auf diese Hebrideninsel. Der alte Mann hatte das gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder durchgestanden, und es bedarf keiner allzu großen Phantasie, die Leiche im Moor als diesen Bruder zu identifizieren.

Was aber tatsächlich geschehen ist, in den späten 1950er Jahren am Inselstrand, und wer den durch einen Unfall geistig leicht behinderten Buben so grausam niedergemetzelt hat, das erschließt sich erst Stück für Stück bis hin zu einem blutigen Showdown fünfzig Jahre danach.

Geschichte einer Familie

Peter May hat einen berührenden Roman geschrieben, einen Kriminalroman, ja, der aber eher die Geschichte einer Familie erzählt. Eine ungewöhnliche und tragische Geschichte, behutsam bis bedächtig erzählt. Lesestoff für die ruhigeren Herbsttage.

Service

Peter May, "Beim Leben deines Bruders", aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Zsolnay Verlag