Antony Beevors neue Betrachtungsweise
Der Zweite Weltkrieg
Europa stolperte nicht in diesen Krieg am 1. September 1939. Der Zweite Weltkrieg stellt eindeutig ein ganzes Knäuel von Konflikten dar. Zumeist handelte es sich um solche zwischen einzelnen Staaten, die jedoch von der internationalen Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts durchdrungen und in vielen Fällen sogar dominiert wurden.
27. April 2017, 15:40
Fehleinschätzungen dominierten vor allem zu Kriegsbeginn, setzten sich aber fort: Hitler erwartete nicht, dass die Regierung Chamberlain ihre Beschwichtigungspolitik schon im Falle Polens aufgab. Chamberlain selbst unterschätzte die Bereitschaft anderer englischer Politiker - etwa Winston Churchills - diesen Krieg zu führen. Gemeinsam überschätzten sie die Fähigkeit Frankreichs, sich gegen Hitler zur Wehr zu setzen. Vor allem aber verkannten alle den Expansionsdrang Japans, das bereits Krieg gegen die Chinesen in der Mandschurei führte und besessen war, zur alleinigen Großmacht des Fernen Ostens aufzusteigen. Es verfolgte dabei ein politisches Konzept, das den Plänen Deutschlands in Europa nicht unähnlich war.
Bedeutender Kriegsschauplatz Asien
Eine Neubewertung stellt Anthony Beevors These dar, dass der asiatische Kriegsschauplatz in seiner Bedeutung für den Kriegsverlauf bisher unterbelichtet geblieben ist. Ihm widmet Beevor daher besondere Aufmerksamkeit. Aufgrund des starken chinesischen Widerstandes, der durch die amerikanische Unterstützung der Truppen Tschiang Kai-Scheks in China wuchs, verzichteten die Japaner auf einen Einfall in Sibirien, als die Rote Armee schwächelte. Ein solcher, von Deutschland erwarteter Einfall, hätte das Kriegsblatt wenden können. Stattdessen eroberten die Japaner sukzessive und nahezu mühelos die britischen Kolonien des Fernen Ostens, zumal dort kaum Kriegsmarine stationiert war und England durch den Krieg im Atlantik sowie die Unterstützung der Sowjetunion gebunden war.
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Großbritannien war keine Kontinentalmacht. Es stützte sich seit langer Zeit auf seine Stärke zur See und auf Bündnisse, um das Kräftegleichgewicht in Europa zu erhalten. (...) Die abstoßende Selbstgefälligkeit der Kolonialgesellschaft hatte zu Selbsttäuschung geführt, die vor allem auf Arroganz beruhte. Typisch für die fatale Unterschätzung der japanischen Angreifer war die Vorstellung, alle japanischen Soldaten seien kurzsichtig und westlichen Truppen von vornherein unterlegen.
Bestialische japanische Soldaten
Die Militarisierung der japanischen Gesellschaft, ihr vehementes politisches Programm einer imperialen Befreiung und despotischen Neuordnung Asiens war von Europäern wie Amerikanern jedoch wenig berücksichtig worden - eine weiterer strategischer Fehler. In der bestialischen Brutalität japanischer Soldaten sieht Anthony Beevor eine in ihren Mechanismen ähnliche fanatische Ideologie am Werk wie jene der Deutschen:
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Die japanischen Soldaten waren in einer militarisierten Gesellschaft aufgewachsen. (...) Bereits die Grundausbildung war darauf ausgelegt, ihre Persönlichkeit zu zerstören. Rekruten wurden permanent von den Unteroffizieren gedemütigt und geschlagen, um sie abzustumpfen und ihnen einzubläuen, ihre aufgestaute Wut an den Soldaten und Zivilisten des besiegten Feindes auszulassen. Man hatte den Kindern schon in der Grundschule eingetrichtert, die Chinesen seien der "göttlichen Rasse" der Japaner absolut unterlegen und noch wertloser als Schweine. (...) In Nanjing wurden verwundete chinesische Soldaten mit dem Bajonett erstochen, wo sie gerade lagen. Offiziere ließen Gefangene in Reihen niederknien und enthaupteten sie dann einen nach dem anderen mit dem Samuraischwert. (...) Die "Furia japonica" schockierte die Welt mit ihren abscheulichen Massakern und Massenvergewaltigungen.
Anschaulich stellt der britische Historiker dar, dass erst der Krieg auf zwei Ozeanen zur globalen Ausweitung führte. Und dieser Weltkrieg begann nicht vor dem Kriegseintritt der USA. Über den beabsichtigten Angriff auf Pearl Harbor hatten die Japaner Deutschland nicht einmal informiert und da es sich beim Dreimächtepakt Deutschland-Italien-Japan um ein Verteidigungsbündnis handelte, wäre Deutschland nicht verpflichtet gewesen, den USA den Krieg zu erklären, was Hitler umgehend tat, ohne seine eigenen Generäle zu konsultieren.
Churchills Geschicklichkeit
Wäre es nach deutschen Plänen gelaufen, hätte der Angriff auf die USA erst 1943 erfolgen sollen. Doch Hitler wusste nichts von der hohen Geschicklichkeit Winston Churchills, dem es gelang, die USA mit der Zusicherung ins Boot zu holen, "Deutschland zuerst" zu besiegen. Erst seit dem Kriegseintritt der USA war Churchill siegesgewiss und ließ sich sogar zur Unterzeichnung der Atlantikcharta überreden, die der Nachkriegswelt Selbstbestimmung, also das Ende des Kolonialismus, versprach - freilich, wie Anthony Beevor ironisch anmerkt, unter der hintergründigen Annahme, England davon auszunehmen.
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Mit Hitlers Kriegserklärung und den japanischen Angriffen im Fernen Osten war der Konflikt wahrhaft global geworden. In seiner antisemitischen Besessenheit glaubte Hitler, die USA seien ein nordisches Land, dominiert von jüdischen Kriegstreibern. (...) Nach seiner verqueren Logik sollten die Juden für ihre Schuld büßen.
Der Holocaust setzte erst mit der globalen Kriegsausweitung ein, aber hier liefert Anthony Beevor keine Neudeutungen. Die Stärken dieses Opus Magnum liegen einerseits in der Akzentuierung der asiatischen Kriegsdynamiken, andererseits in der Einbeziehung verschiedener nationaler Kriegsperspektiven, die es erlauben, auch die Kalküle und Erlebnisweisen der anderen Kriegsteilnehmer zu erfassen. Die Schwächen liegen dort, wo sich der Autor konsequent weigert, auch nur die geringsten Abstraktionen und Generalisierungen vorzunehmen, sodass er oft sprunghaft von Entscheidung zu Entscheidung hetzt - und letztlich den Lesern mit Informationen erschlägt, sodass vor allem die inflationären Leichenberge jedes Kapitels in Erinnerung bleiben.
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Antony Beevor, "Der Zweite Weltkrieg", aus dem Englischen von Helmut Ettinger, C. Bertelsmann