Ö1 trauert um Gerhard Pretting

Dr. Gerhard Pretting, ständiger Mitarbeiter zahlreicher Ö1 Sendereihen wie "Ex libris", "Kontext" und "Radiokolleg", ist völlig überraschend in der Nacht von 17. auf 18. Oktober im 46. Lebensjahr an einem Aortariss gestorben.

Gerhard Pretting

PRIVAT

Gerhard Pretting wurde am 21. Oktober 1968 geboren, dieser Tage wollte der Journalist und Medientheoretiker nicht nur seinen Geburtstag, sondern auch das 20. Jubiläum des Abschlusses seiner Dissertation feiern. Darin und auch auf Ö1 beschäftigte er sich besonders mit Baudrillard, Foucault und Derrida. Pretting arbeitete auch für das Wirtschaftsmagazin "brand eins" und "Die Zeit" und war als Sachbuchautor tätig. Das "Verschwinden der Eindeutigkeiten", wie er eine seiner Sendereihen im "Ö1 Radiokolleg" nannte, war für ihn eine der großen Herausforderungen der Gegenwart. Höheres Geblödel, Freude an streitlustigem Diskurs, geschickt gesetzte Argumente waren seine Leidenschaft, daran ließ er seine nähere Umgebung und die Ö1 Hörer teilhaben.

Ex Libris

Gerhard Pretting gehörte seit 2002 zum Stammteam von "Ex libris", seit ich die Sendung produziere. Er war, wie ich damals, in nahezu allen Formaten daheim, die Ö1 zu bieten hatte. Ein Allrounder, wie man ihn bis zum heutigen Tag im Sender kaum findet. Man konnte ihm jedes Buch geben, er machte etwas daraus, das immer zwischen objektiver Kritik und subjektiver Textdeutung schwebte. Er gab keine Inhalte wieder und er bemühte kein akademisches Vokabular. Formal konnte man ihm alles überantworten, Rezensionen, O-Ton-Beiträge, Kolumnen, Gespräche. Später betreute er die Sendung als Regisseur und als leitender Redakteur, wenn ich auf Urlaub, auf Dienstreise oder sonst wie verhindert war. Allein in den zwölf "Ex libris"-Jahren hat er es auf einige Hundert Beiträge gebracht. Er hatte natürlich auch seine Vorlieben: klassische Moderne, die Franzosen, vor allem die spröden und schwierigen, von Blanchot über Bataille bis zu Houellebecq. Geschichten, die von Außenseitern und Randphänomenen handeln. Und natürlich alles, was mit Pop zu tun hat. Er hat die Sendung auch genutzt, um zwischen den Beiträgen zwei, drei Stücke aus aktuellen CDs zu spielen. So fanden Musikstile Eingang auf Ö1 – wenn auch nur auf dieser kleinen "Ex libris"-Insel - die man im Sender sonst nicht hören konnte. Die letzte Geschichte, die er für die Sendung geschrieben hat, war typisch für seine literarischen Vorlieben: sie handelt von Alfred Jarry, dem literarischen Rowdy des Fin de Siècle und Erfinder der Unsinnswissenschaft Pataphysik.

Peter Zimmermann

Kontext

Baudrillard, Foucault, Derrida: die französischen Meisterdenker lagen ihm am Herzen. Gesellschaftsanalysen im allgemeinen, zuletzt stellte er in "Kontext" George Packers Analyse über den Niedergang der USA vor, sein letzter Beitrag galt "Der Gesellschaft der Angst", so der Titel der Gegenwartsanalyse des deutschen Soziologen Heinz Bude. Gerhard Pretting selbst war auch als Sachbuchautor tätig, hat das Begleitbuch zu Werner Bootes Film "Plastic Planet" verfasst. Wie überhaupt sein thematisches Spektrum ein breites war: Für eine Geschichte der Freundschaft hat er sich interessiert, und heuer im Sommer ganz besonders für einen Bildband über Kreuzfahrten. "Kreuzfahrtträume", so der Buchtitel, hatte er schon selbst Wirklichkeit werden lassen. Schade, dass es nicht mehr werden konnten.

Wolfgang Ritschl

Radiokolleg

Vom 19. Jahrhundert und den Weichen in die Moderne hätte sein "Radiokolleg" erzählt, das er gerade in Arbeit hatte. Wir werden es nicht hören, wahrscheinlich wird dieses Thema so schnell niemand anderer aufgreifen. Es war ein typischer "Pretting Vorschlag", geboren aus verschiedenen Gesprächen mit Kollegen und seiner Leidenschaft, den Dingen auf den Grund zu gehen, wissen zu wollen, aus welchen Ideen sich unsere Zeit und Welt zusammensetzt.

Gerhard Pretting suchte die Herausforderung und das Radiokolleg war sein Format für große Bögen und große Erzählungen, die er gleichzeitig in Frage stellte. Ihm ging es um die Brüche, um Widersprüche. "Vom Verschwinden der Eindeutigkeiten" nannte er seine vierteilige Reihe über die Postmoderne und die Dekonstruktion fixer Geschlechteridentitäten beschäftigte ihn für die Serie über die "Feminisierung der Gesellschaft". Gerhard liebte schwierige Themen und verstand die Kunst, Dinge auf das Wesentliche zurückzuführen ohne sie zu reduzieren. Für eine Bildungssendung wie das Radiokolleg ist diese Fähigkeit ein Geschenk. Pretting wird uns fehlen, wird mir fehlen, sein Verständnis für neue Zugänge, sein reichhaltiges Wissen über zeitgenössische politische Theorie und Philosophie war inspirierend und eine Quelle für viele Sendungsideen.

Im kleinen "Radiokolleg", ab 9:30 Uhr beschäftigte er sich gerne mit seinen Lieblingsthemen, was zu Serien über "Dandyismus", die "Situationisten" oder George Bataille, dem "Denker des Nutzlosen" führte. Für die Musikviertelstunde kann ich nur sagen, die Vorstellung keine neuen Pretting-Serien mehr hören zu können, tut weh.

Ina Zwerger

Radiokolleg - Musikviertelstunde

Gerhard Pretting hat 29 Musik-"Radiokollegs" gemacht. Knapp vor dem 30. ist er gestorben. Es wäre eine Sendung zum Thema "Übertreibung und Karikatur in der Musik" geworden, einem geradezu klassischen Pretting-Thema, genre-übergreifend, von Klassik bis Pop, von Mozart bis Madonna. Gerhard war kein Musikexperte und hat das auch stets betont. Mit der perfekten Mischung aus genauer Recherche und gesunder Neugier gelangen ihm jedoch fundierte, informative und sehr oft auch witzige Sendungen. Ob Lou Reed oder Roy Black, Trinklieder oder Militärmärsche, "Musik und Geld" oder "Musik und Gewalt" – Pretting verfügte über das, was Ö1 ausmacht: Die Verbindung aus seriösem Journalismus und künstlerischer, handwerklich bestechender Radioarbeit.

Wenn es etwas aus seinem grauenhaft plötzlichen Ableben zu lernen gibt, dann dieses: Die Lücke, die Menschen wie er hinterlassen, können wir in Ö1 nur schließen, indem wir enger zusammenrücken, und dem Sender keine kreative Pause gönnen.

Albert Hosp

Sendungen in memoriam Gerhard Pretting

Kontext: 31. Oktober
Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburger Edition

Ex Libris: 2. November
Besprechung der Alfred-Jarry-Biografie von Alastair Brotchie

Dimensionen: 4. November
Das geheime Leben des Paul de Man

Radiokolleg: 10. bis 13. November
Die Postmoderne. Vom Verschwinden der Eindeutigkeiten.
(Wiederholung vom 23. bis 26. Jänner 2012)

Radiokolleg: 9. bis 11. Jänner
Britischer Postpunk. Als der Underground zum Mainstream wurde.
(Wiederholung vom 24. bis 27. Juni 2013)

Service

Gerhard Pretting/ Werner Boote, "PLASTIC PLANET – Die dunkle Seite der Kunststoffe", Orange Press, 2010

The daily Blumenau. Tuesday Edition, 21-10-14. Schneller Tod und langsames Sterben