Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag

Wildes Schreiben

Ob sie im Alter milder geworden sei, wurde Friederike Mayröcker vor Kurzem in einem ORF-Fernsehinterview gefragt. Nein, lautete die Antwort, in ihrem Schreiben sei sie über die letzten sieben Jahrzehnte hinweg eigentlich immer wilder geworden.

Friederike Mayröcker

APA/ORF

"Eine einzige Flächenblutung"

Tatsächlich geht es in den Büchern der Autorin seit jeher heftig zur Sache. In dem großen Prosabuch "mein Herz mein Zimmer mein Name" (1988) setzt am Körper der Schreibenden ein geradezu infernalisches Blutvergießen ein. Blut fließt der Schreibenden in diesem Buch - ein einziger Satz nur, der sich über mehr als 300 Seiten spannt - aus der Nase, Blut pocht ihr in den Ohren und Blut schwitzt sie aus.

"Eine einzige Flächenblutung dein Schreiben", meint dazu der "Ohrenbeichtvater" - eine Figur, die sich im Text oft ungefragt mit unfreundlichen Kommentaren zu Wort meldet. Ein Schreiben ohne Selbstzerfleischung aber ist für die Autorin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr denkbar. Wie eine Rasende bewegt sie sich durch den Text und treibt damit den Text an, eingezwängt in ein "Beicht- und Blutgeschirr", aus dem kein Weg herausführt.

Innere Wahrheiten

Zehn Jahre später lässt sich Mayröcker in ihrem Buch "brütt oder Die seufzenden Gärten" (1998) auf eine "letzte Liebesgeschichte" ein. Auch hier geht sie aufs Ganze: Das Objekt der verrückten Liebe ist eine Figur namens Joseph. An ihm ist ihr Herz entflammt und an seinen Zurückweisungen verzweifelt sie. Wie in allen Büchern Mayröckers wird auch diese Geschichte nicht chronologisch oder kausal entwickelt. Trotz der vielen Datierungen, die gegeben werden, scheint der Verlauf der Liebesgeschichte symmetrisch in sich selbst zurückgebogen. Nicht um äußere Ereignisse, sondern um innere Wahrheiten geht es in dieser Literatur.

"Am liebsten möchte ich gar nicht sterben"

Gezeichnet von dem Bemühen, die ihr von Leben und Wirklichkeit auferlegten Spuren immer präziser in Sprache umzusetzen, ist Mayröcker in ihrem Schreiben immer radikaler und schonungsloser geworden. Ein "Alterswerk" im herkömmlichen Sinn liegt bei ihr nicht vor. Seit Johann Wolfgang von Goethe versteht man darunter im Leben des Dichters eine letzte Phase, die sein Gesamtwerk zu einem runden Abschluss bringt.

Friederike Mayröcker zeigte sich bislang nicht bereit, ihrem hoch imposanten Gesamtwerk eine solch finale Ummantelung zu geben. Das hängt auch damit zusammen, dass sie das Ende des Lebens ähnlich radikal wie ansonsten wahrscheinlich nur Elias Canetti sieht: als etwas, das gar keinen Sinn ergibt. In Interviews erklärt die Autorin seit vielen Jahrzehnten, dass sie am liebsten gar nicht sterben möchte, und wenn es sein muss, erst im Alter von mehr als 120 Jahren.

Vieles gilt es noch zu schreiben

Eine der Motivationen für ein derartig langes Leben sind die vielen Bücher, die es noch zu schreiben gilt. Jedes der Mayröcker’schen Bücher setzt am anderen etwas fort, aber keines zieht aus den anderen eine Summe. Dies zeigt sich auch in der Serie ihrer jüngsten Arbeiten, beginnend mit dem Buch "études" (Suhrkamp, 2013), weitergeführt mit "cahier" (Herbst 2014) und endend mit "fleur" (geplant: Frühjahr 2015). Nicht zur Steuerung des eigenen Nachruhms, sondern als emphatische Angebote an den Leser und die Leserin sind diese jugendlich-frischen Texte gemacht. Und dabei doch mit all der Altersweisheit getränkt, die Friederike Mayröcker in ihrem jahrzehntelangen Schreiben erreicht hat.

Text: Klaus Kastberger