Ukraine: Größte Flüchtlingskrise seit 20 Jahren
In der Ukraine trat Anfang September ein Waffenstillstand zwischen prorussischen Freischärlern und ukrainischen Truppen in Kraft. Seither sind drei Monate vergangen - und die Zahl der Binnenflüchtlinge hat sich praktisch verdoppelt: 500.000 sind es bereits auf ukrainischem Territorium, denn der Waffenstillstand besteht nur auf dem Papier und in den Rebellen-Gebieten der Ostukraine wird die soziale Lage immer schlechter. Mit dazu beiträgt auch die Regierung in Kiew, die alle ihre Institutionen auf Rebellen-Gebiet geschlossen hat.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 6.12.2014
Im Vergleich zu den Kriegen im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina hat der Krieg in der Ostukraine eine Besonderheit, die in Westeuropa lange die Bewusstseinsbildung dafür erschwerte, wie massiv das Problem der Vertriebenen ist. So fehlen Flüchtlingsströme und die entsprechenden Bilder, weil die Massenflucht eher schrittweise erfolgte, die Ukraine sehr groß ist, und auch die Flüchtlingswelle Westeuropa nicht so betrifft wie während der Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien. Dabei gibt es in der Ukraine bereits eine Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene, kalkuliert in Kiew der Leiter des UNHCR, Oldrich Andrysek:
„In der Ukraine haben wir fast 500.000 Binnenvertriebene aus der Ostukraine. Das ist somit die größte Flüchtlings-Krise in Europa seit 20 Jahren, seit dem Zerfall Jugoslawiens. In Russland haben wir einige Hunderttausend, in Weißrussland mehr als 50.000. Es gibt noch kein voll funktionierendes Registrierungssystem für Flüchtlinge, doch meine konservative Schätzung lautet, dass wir mindestens eine Million Menschen haben, die unfreiwillig ihr Heim verlassen mussten; dazu zählen auch 20.000 von der Halbinsel Krim, die in andere Landesteile geflohen sind.“
Die Hilfe des UNHCR schildert Andrysek so: „Wir verteilen Zehntausende warme Decken, warme Kleidung für Kinder und Erwachsene, Toilettenartikel und Medizin; wir haben auch zehntausende Quadratmeter an festen Plastikplanen beschafft. Denn es gibt viele beschädigte Dächer, und werden sie nicht abgedeckt, besorgt das Wasser den Rest. Daher verteilen wir diese dicken Plastikplanen, die jedenfalls ein Jahr halten und Wasser nicht durchlassen.“
In der Ukraine schätzt Andrysek, dass 90 Prozent der Vertriebenen bei Angehörigen untergekommen sind; für sie ist die Aufnahme von Verwandten angesichts der sozialen Krise im Land, eine große Belastung; Vertriebene erhalten nur unter bestimmten Voraussetzungen von Kiew eine Finanzhilfe von umgerechnet 35 Euro, die aber auf sechs Monate beschränkt ist. Mit Geld versucht auch das UNHCR zu helfen, erläutert Andrysek:
„Bargeldhilfe an sozial besonders bedrohte Familien ist die beste Form der Hilfe. Dann müssen wir nichts kaufen, nichts ausschreiben und nicht schätzen, was Menschen brauchen, die das Nötigste dann selbst kaufen können. Doch wie findet man unter 500.000 Personen die Hälfte heraus, die sozial besonders gefährdet ist? Da haben wir nun eine Zusammenarbeit mit den Sozialämtern der Kreise entwickelt, die Listen von Alleinerziehern, Mehrkindfamilien, Behinderten und Pensionisten zusammenstellen. An Hand dieser Listen kalkulieren wir die Bargeldhilfe, die dann von den Sozialämtern so wie Pensionen oder Sozialhilfe ausbezahlt werden.“
Und warum ist das UNHCR nicht auch dort in der Ostukraine aktiv, die von pro-russischen Freischärlern kontrolliert wird? Dazu sagt Andrysek:
„Es ist ein großer Unterschied, ob die OSZE mit einigen gepanzerten Fahrzeugen oder wir mit LKWs voll mit Hilfsgütern unterwegs sind, die Ziel von Diebstählen sein könnten. Trotzdem wurden im Sommer auch OSZE-Beobachter entführt. Dann geht es darum, an wen verteilt wird. Wir als UNHCR müssen die Güter selbst n jene verteilen können, von denen wir glauben, dass sie Hilfe am nötigsten brauchen. Daher brauchen wir entsprechende Listen, um kontrollieren zu können, dass die Güter auch verteilt wurden. Doch es kam keine Vereinbarung zustande, obwohl zwei UNO-Missionen in Donezk waren.“
Andrysek schätzt, dass in den Rebellen-Gebieten noch 3,5 Millionen Menschen leben; damit hätte sich die Bevölkerung dort praktisch halbiert, denn vor Kriegsbeginn waren es etwa sieben Millionen Menschen.