Kurzessay zu Lukas 1, 26 – 38
Der Evangelist Lukas erzählt eine Liebesgeschichte – die Liebesgeschichte einer Frau namens Maria. Die Wucht dieser Liebe macht Maria zur Mutter des Jesus von Nazareth.
8. April 2017, 21:58
Eine der für mich schönsten Interpretationen dieser Liebesbegegnung ist das Gedicht „Mariae Verkündigung“ von Rainer Maria Rilke:
Nicht dass ein Engel eintrat (das erkenn),
erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
auffahren -, pflegte sie an der Gestalt,
in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
sie ahnte kaum, dass dieser Aufenthalt
mühsam für Engel ist.
Nicht, dass er eintrat, aber dass er dicht,
der Engel, eines Jünglings Angesicht
so zu ihr neigte; dass sein Blick und der,
mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als wäre draußen plötzlich alles leer
und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt in sie: nur sie und er;
Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.
Dann sang der Engel seine Melodie.
So erzählt Rilke ein Ereignis, von dem niemand je genau wissen wird, was damals wirklich geschehen ist, als Maria Jesus empfangen hat. Wie Rilke hat auch der Evangelist Lukas dieses Ereignis zu einer poetischen Erzählung verdichtet. Dabei hat er auf jüdische und heidnische Motive zurückgegriffen: das Motiv des Engels, das Motiv der Jungfrauengeburt, mit dem damals die Ankunft von Göttern verkündet wurde, die jüdischen Ehrentitel „Sohn des Höchsten“, „Thronerbe Davids“, die Jesus von Nazareth übertragen werden, um zu erzählen, dass mit ihm der Messias, der Erlöser und Befreier der Menschheit gekommen ist.
Was mir an der poetischen Verdichtung Rilkes so nahe geht: Rilke hält sich nicht lange mit Fragen auf, ob es Engel gibt oder Maria Jungfrau war. Er stellt die beängstigende Wucht der Liebe ins Zentrum: Es gibt eine Liebe, die von solcher Gegenwart ist, dass alles, was jemals war; alles, was jemals von Menschen erlitten und ersehnt, ertragen und erhofft wurde, in ihr gleichsam aufgehoben ist. Diese Liebe kann die Welt verändern. Sie schwebt nicht abstrakt in der Luft, sondern ereignet sich konkret: im Leben von Maria aus Nazareth, in jedem Leben, wo geliebt wird.