Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen

Sie wissen alles

Sie wissen, wie viel Strom wir wann verbrauchen, welche Websites wir besuchen, wie viel Alkohol wir konsumieren und wo wir unseren Urlaub verbringen. Die Rede von Algorithmen, die riesige Datenmengen durchkämmen und daraufhin unser Verhalten prognostizieren. Yvonne Hofstetter ist Expertin für künstliche Intelligenz. In ihrem Buch "Sie wissen alles" fordert sie, dass wir unsere Menschenwürde gegen die digitale Revolution verteidigen.

Wie nimmermüde Bienen sammeln und verarbeiten intelligente Maschinen Informationen. Data Mining nennt man die ständige Abschöpfung von großen und riesengroßen Datenmengen, von Big Data. Big Data benutzen wir jeden Tag, zum Beispiel, wenn wir die Wettervorhersage hören. Big Data ist wichtig für alles, womit man rechnen und steuern kann - für die Wissenschaft genauso wie für die Bevölkerungspolitik und die Wirtschaft.

Traum einer lückenlosen Verdatung

Die Datenindustrie von den sozialen Netzwerken über die Klimaforschung bis zur Sozialversicherung träumt mittlerweile vom Full Take, also von der lückenlosen Verdatung des Menschen. Das ist Versprechen und Drohung zugleich. Das Versprechen lautet: Wir bauen Smart Cities und leben in intelligenten Wohnungen, in denen der Kühlschrank selbstständig digital einkaufen geht. Die Drohung von Big Data hört nicht nur auf den Namen NSA, sondern meint auch all die privaten Datenkraken, die uns ausspähen. Sie sitzen zum Beispiel in unseren Handies oder in anderen sogenannten Wearables, also in am Körper getragenen, vernetzten Rechnern.

Yvonne Hofsetter arbeitet als Unternehmerin im IT-Bereich. Ihr Spezialgebiet sind Fusion und Analyse von großen Datenmengen. Ihr Buch "Sie wissen alles" klingt wie ein Plädoyer gegen die Auswüchse ihres eigenen Berufs, die nicht zuletzt auch zu einer dramatischen Veränderung des Arbeitsmarktes führen werden.

Wendepunkt 2000

Begonnen hatte alles, wie so oft, wenn es um die Entwicklung von Technologie geht, mit den Forschungen für militärische Zwecke. Von den Anfängen der Kybernetik, die das Ausrechnen von feindlichen Flugbahnen betrieb, führt eine Linie zum sich selbst regulierenden Heizungsthermostat. Für Europa, behauptet Hofstetter, die auch die Big-Data-Nutzung durch die US-Army in den 1990er Jahren ausführlich rekapituliert, war das Jahr 2000 entscheidend. Damals wurde der Rüstungskonzern EADS gegründet, der heute nach seinem zivilen Produkt Airbus als Airbus Group benannt ist.

Markt - ein nichtkooperatives Spiel

Big Data, Big Speed und Big Money. Diese drei Begriffe gehören heute zusammen: Sie bündeln sich in den vollautomatisierten Hochfrequenzbörsen, in denen nicht mehr Trader mit anderen Tradern handeln, sondern Rechner mit anderen Rechnern.

Der Handel ist aber nicht nur unfair, sondern auch gefährlich und irrational. Entscheidend sind nicht nur Insiderwissen, sondern Rechnerleistungen und Standortvorteile, die minimalste Zeitvorsprünge generieren. Bzw. die Logik der Programme: Wird das Profitkalkül eines Mitanbieters in diesem nichtkooperativen Spiel namens Markt, wie es die Spieltheorie nennen würde, durch gegnerische Programme ausgetrickst, können die Wenn-dann-Effekte der Algorithmen in Sekundenbruchteilen die Weltwirtschaft erschüttern.

Der gläserne Kunde

Nach den Big-Data-Anwendung in der Rüstungsindustrie und in der Finanzwissenschaft ist es aber vor allem ein Einsatzgebiet, das Hofstetter Kopfzerbrechen macht: Der Angriff der Datenindustrie auf das Individuum. Der gläserne Bürger von früher wird nun auch noch zum gläsernen Kunden. Dabei herrscht, so Hofstetter, eine prinzipielle Schieflage zwischen dem Einzelnen und der Welt der Institutionen und Unternehmen.

Recht auf informationelle Unschuld

Immer öfter hört man heute vor allem im besonders überwachungskritischen Europa das Schlagwort von der Post-Privacy, also von einer Welt nach dem Ende der Privatsphäre. Auch Hofstetter zitiert die Redewendung. Für sie ist Post-Privacy, im Gegensatz zum Beispiel zu den kalifornischen Predigern der schönen neuen digitalen Welt, eine Horrorvorstellung. Sie plädiert daher für eine soziale Datenmarktwirtschaft und für das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Die Politik, so ihre Forderung, muss in die Pflicht genommen werden, uns die Option auf informationelle Unschuld zu erhalten - bzw. diese erst wiederherzustellen.

Service

Yvonne Hofstetter, "Sie wissen alles - Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir um unsere Freiheit kämpfen müssen", C. Bertelsmann Verlag