"Randnotizen" von Rainer Rosenberg

Von Charakter, Laus und Leber

Woran glaube ich den Charakter von Menschen zu erkennen, die mir begegnen?

Doch halt, Charakter, das ist schon ein so großes Wort – da frage ich lieber, wie deute ich ein Lächeln, wie einen grantigen Blick? Bedeutet das Unsicherheit oder Freundlichkeit, ist jemandem gerade die sprichwörtliche „Laus über die Leber“ gelaufen oder hat er oder sie Sorgen? Aber: was ist denn das schon wieder „die Laus über die Leber gelaufen“? Halten wir fest: ich möchte wissen, woher diese Redensart kommt, und dann noch eine Studie über „Charakter“ machen.

Fahrrad zwischen Autos

APA, Helmut Fohringer

Dazu später, weiter im ersten Text, zurück zu den Einschätzungen bei Begegnungen: Halte ich jemanden für vertrauenswürdig oder nur sich nach dem eigenen Vorteil verhaltend, bleibe ich haften an alten Stereotypen wie „oberflächlich freundliche Amerikaner“ gegenüber „tiefgründigen grantigen Wienern“? - Sie merken, bei den Stereotypen verweigere ich einmal kurz zu gendern. Irgendwann ist das Mann-Frau Spiel ja auch genug und vielleicht können wir uns im Notfall darauf einigen, dass ich hierbei tatsächlich nur Männer gemeint habe – wobei mir um bei den Stereotypen zu bleiben - eigentlich oberflächlich freundliche Menschen angenehmer sind.

Denn manchmal ist es anstrengend, sich immer wieder einen „Schmäh“ einfallen lassen zu müssen, wenn man z.B. einkaufen geht, um die andere Seite freundlich zu stimmen: Ja, ich tue es, weil ich habe ja schon erlebt? – wie es ist, wenn das jemand nicht tut.

Oder denken Sie an die Anrufer und Anruferinnen bei „Von Tag zu Tag“. Tatsächlich interessiert mich, was sie wohl sagen werden und sagen, tatsächlich ist meine Ausgangposition „interessiert, freundlich“. Jedenfalls sage ich nicht danke, nur weil ich zu einem „Kunden, einer Kundin freundlich sein will. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass der Begriff Kunde sehr oft falsch gebraucht wird - egal ob die Arbeiterkammer einen Kundenparkplatz hat oder manche im ORF von Kunden sprechen. Das Leben besteht nicht nur aus Geschäftsbeziehungen. Das eine ist eine Interessensvertretung, das andere eine öffentlich Einrichtung. Es denkt ja auch niemand daran beim Gottesdienstbesuch Kunde irgendeiner Glaubensgemeinschaft zu sein, also: halten wir fest die Verkundung des Menschen ist ein Spiegelbild der Kommerzialisierung der Gesellschaft und damit wohl auch einer Entpolitisierung.

Apropos festhalten – wie war das mit „Charakter“? Wollen wir nun darunter die „persönlichen Kompetenzen, die die Voraussetzung für moralisches Verhalten bilden“, verstehen? Oder nehmen wir den Begriff eher als Umschreibung für das Temperament eines Menschen und dessen auffällige und übliche Verhaltensweisen? Lassen wir gut und schlecht in der Beschreibung weg, verlegen wir uns auf Beobachtung statt auf Bewertung? Klarerweise gelingt das nicht immer, aber ich glaube, es hilft meistens.

Und apropos Beobachtung: weil ich ja eigentlich über alltägliche Erfahrungen berichten wollte, und ich mir manche Erfahrungen „erfahre“: mit Auto, Roller, Fahrrad in der U-Bahn oder auch als Fußgänger ergehe. Jedenfalls sind dies Übungen in der hehren Disziplin des Perspektivenwechsels. Mit Fahrrad und Roller schummle ich mich z.B. gerne zwischen anderen Verkehrsteilnehmern durch, ich achte auf Langsamere, und habe dabei so meine Erlebnisse: man begegnet mir unterschiedlich: die Einen denken offenbar, he, der hat einen Roller, ein Fahrrad, für mich ist es kein Problem, den da durchzulassen. Sie machen Platz. Die anderen versperren den Weg.

Ist das nun Neid, ein Beharren auf vermeintlichen Regeln, ist es Charakter, oder einfach ein fantasierter Wettbewerb, in dem mit so manchen Mitteln gekämpft wird. Was sagt es aus über jemanden, der einen offenbar gerne vorbei lässt, ein dankendes Winken bekommt, und was wenn jemand die Lücke ohne eigenen Vorteil schließt? Ich finde jedenfalls, es wäre unfair davon auf den „Charakter“ zu schließen, vielleicht eher auf eine „Stimmung“.

Und ach ja, vielleicht ist der Person gerade eine „Laus über die Leber gelaufen“. Woher kommt der Spruch doch gleich? Diese Antwort bin ich Ihnen noch schuldig: Kollegen vom Südwestrundfunk haben das recherchiert: also: So wie Charakterdefinitionen auf Aristoteles zurückgehen, kommen wir auch hier in die Antike: es geht um die vier Körpersäfte, und so wie ein Melancholiker diesem Modell nach zu viel Schwarze Galle haben soll, spielt auch der Lebersaft eine große Rolle bei einem Stimmungsumschwung. Die „Laus“ die einem über die Leber läuft steht für einen ganz kleinen Reiz, der zur Ausstoßung von Lebersaft führt, was wiederum schlechter Stimmung bewirkt. Eine Weiterentwicklung dieses Gedankenganges, so die Kollegen vom SWR, ist der Ausdruck „beleidigte Leberwurst“. Ob diese Beschreibung jetzt aber die Stimmungsgrenze überschreitet und zu „Charakter“ führt, das lasse ich dahingestellt.