Das Kopftuchweiblein

Sie hieß Christine Habernig, geborene Thonhauser, aber als Autorin nannte sie sich nach dem Tal, in dem sie am 4. Juli 1915 geboren wurde: Christine Lavant. Mit Betonung auf der ersten Silbe, genau wie im Namen des Unterkärntner Flusses.

Christine Lavant war das neunte Kind armer Leute und litt schon als Säugling an Skrofulose, einer entstellenden Erkrankung, die heute fast ausgestorben ist und unter anderem auf die schlechten Lebensbedingungen zurückzuführen war. Später kamen Lungenentzündungen, Mittelohrentzündungen und eine Lungentuberkulose hinzu. Infolgedessen litt Christine Lavant für den Rest ihres Lebens an einseitiger Taubheit sowie einer allgemein schwachen körperlichen Konstitution. Bilder zeigen eine sehr zarte Person, auf die das Wort "ausgemergelt" zu passen scheint wie auf kaum eine andere.

Arnold Mettnitzer

Christine Lavant nützt ihr Leiden dazu, um daraus Texte zu melken, die zum Schönsten in der Literatur des deutschsprachigen Raumes gehören. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, wie man am Leiden nicht zerbricht.

Mondhuhn, Hundsstern oder Katzenwolf

Aber was für Gedichte sie schrieb! Der kürzlich erschienene umfangreiche Band mit allen zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichten der Kärntner Autorin hat sich bereits jetzt zu einer Art Bibel einer wachsenden Christine-Lavant-Gemeinde entwickelt. Bei der Lektüre der knapp 600 lyrischen Texte, allesamt titellos und niemals länger als eine Seite, fällt der betont archaische Wortschatz auf, der aber immer wieder abgewandelt und neu zusammengestellt wird. Mond und Stern, Wolf und Lamm, Wolke und Baum werden kombiniert zu Mondhuhn, Hundsstern oder Katzenwolf, zu Scheitelstern, Friedhofbaum oder Wolkenstrauß.

Aus dem Gesicht wird ein "Ingesicht", und die "Mondzehe wächst und wird sich bald häupteln". Das zum Greifen nahe Geheimnis, das aber letztlich unberührbar bleibt, durfte eines der Faszinosa dieser auf sehr eigenwillige Art hermetischen Gedichte sein. Es gibt wenig lyrische Dichtung, die sich einerseits so stark vom Biografischen her deuten ließe, und sich andererseits jeglicher Deutung so heftig entzieht.

Kopftuch der Kärntner Bäuerinnen

Lavant verbrachte aufgrund verzweifelter Gemütszustände mehrmals längere Zeit in der Psychiatrie. Sie erlebte mehrere als sehr schwer empfundene Ruckschläge in ihrem Bemühen um das Schreiben und eine persönliche Katastrophe in ihrer Beziehung zu dem verheirateten Kärntner Maler Werner Berg. Auf dessen Bildern, die häufig kopftuchtragende Frauen darstellen, erkennt man trotz der stark ikonografischen Anmutung dieser Frauenporträts auf den allerersten Blick jene, die Christine Lavant darstellen.

Die Dichterin, die auch selbst malte, trug fast immer das tief ins Gesicht gezogene Kopftuch der auf den Feldern arbeitenden Kärntner Bäuerinnen und war auch sonst äußerlich unschwer als "die Lavant" erkennbar. Trotz ihrer äußerst geringen Bildung und der Tatsache, dass sie sich und ihren Ehemann, einen um Jahrzehnte älteren und völlig mittellosen Künstler, jahrelang mit häuslichen Strickarbeiten ernährt hatte, scharte sie, stets sehr viel schwarzen Tee trinkend, einen Kreis an Bewunderinnen und Bewunderern um sich.

Die Nacht wurde zum Tag

Wie Ingeborg Bachmann machte auch "die Lavant" zigarettenrauchend die Nacht zum Tag, und es gibt bei aller Unterschiedlichkeit auch noch weitere Gemeinsamkeiten: Nicht nur das Todesjahr 1973 und die Neigung zur Schwermut teilten die berühmten Kärntner Dichterinnen, sondern auch die sehr anrührende Mischung aus lebenslanger persönlicher Verletzlichkeit und weiblicher Anziehungskraft. Letztere speiste sich bei beiden Autorinnen auch aus der Verweigerung eines sogenannten typisch weiblichen Lebensentwurfs.

Im Innsbrucker Brenner-Archiv, wo die "Arbeitsstelle Christine Lavant" sorgfältige Archivierungs- und Forschungsarbeit leistet, findet sich ein Belegstück, das wie wenige andere ein Schlaglicht auf die emotionale Verfasstheit der Kärntner Schriftstellerin wirft. Christine Lavant, die für kurze Zeit in ein Klagenfurter Hochhaus gezogen war, hatte auf einem Formular als Grund für den Auszug "Heimweh" angegeben.

Christine Lavant ist Anton-Wildgans- und zweifache Georg-Trakl-Preis-Trägerin; 1970 erhielt sie auch den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. In den vergangenen Jahren hat es sich der deutsche Wallstein-Verlag zur Aufgabe gemacht, auch die erzählende Literatur von Christine Lavant neu zu edieren. Eine Verfilmung der Erzählung "Das Wechselbälgchen" durch den österreichischen Regisseur Julian Polsler, bekannt durch die Marlen-Haushofer-Verfilmung "Die Wand", ist ebenfalls in Vorbereitung.

Service

Christine Lavant, "Das Kind", neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann, 88 Seiten, gebunden, Wallstein Verlag, Göttingen 2015

Christine Lavant, "Das Wechselbälgchen", Erzählung, nNeu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann, 104 Seiten, gebunden, Wallstein Verlag, Göttingen 2012.

Christine Lavant, "Werke in vier Bänden - Band I: Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte", herausgegeben und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser, 720 Seiten, gebunden, Wallstein Verlag, Göttingen 2014

Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser (Hg.), "Drehe die Herzspindel weiter für mich - Christine Lavant zum 100.", 184 Seiten, gebunden, Wallstein Verlag, Göttingen 2015