von Nadja Kwapil

Randnotizen

Zweifler verraten ihren Namen nicht. Zweifler haben kein Gesicht. Zweifler sind Zwei - ent-zweit treffen sie ihre Entscheidungen. Wie Hildegard Talotti.

Die Maske

Hildegard Talotti hat mir erlaubt, dass ich es weitererzählen darf. Sofern niemand ihren richtigen Namen erfährt, soll ich davon erzählen, hat sie gesagt. Von der Maske, die sie sich jeden Morgen behutsam vor dem Spiegel aufsetzt, die sie sich von einem namhaften NLP-Trainer für PolitikerInnen eigens anfertigen ließ – handgemacht aus kostbarem Material: aus einstudiertem Selbstbewusstsein, aus gespielter Entscheidungskraft, aus aufgesetzter Authentizität.

Ich soll davon erzählen, wie sie jeden Morgen in ihr Kostüm schlüpft, ihre Altbauwohnung in Stöckelschuhen verlässt. Von ihren Schritten, die ohrenbetäubend laut durch das Stiegenhaus hallen - und wie der Zweifel an ihrem Politikerinnen-Dasein, an ihrer Rolle, sie täglich wie ein Echo verfolgt. Der ihr unangenehme Fragen stellt, die ihr kein Kollege, kein Journalist vor laufendem Mikrophon oder laufender Kamera je stellen würde.

Zweifellos

Der Zweifel würde sie nicht um eine Stellungnahme oder um ihre Meinung bitten. Er würde infrage stellen, ob sie von ihrer Meinung auch überzeugt ist – Ob sie Zeit hatte, sich eine überzeugte und überzeugende Meinung zu bilden. Ob sie überhaupt eine hat. Ob es nicht verantwortungslos ist, als Politikerin, einmal keine Worte zu finden. Keinen einschlägigen Lösungsweg in Krisensituationen aufzeigen zu können. Keine zündenden Ideen zu haben.

Sie würde darauf auch nicht antworten, hat Hildegard Talotti gesagt. Ihr wahres Gesicht, ihre geoutete Unsicherheit, ihr Zögern und Zaudern, würden nicht nur ihre aufgesetzte Maske, sondern die einer ganzen Politiker-Generation entstellen. Das zweifelnde, verunsicherte Volk wüsste nicht, wie es mit dem Zweifel von PolitikerInnen umgehen soll. Die Gesellschaft will nicht in jeder kollektiven Charaktereigenschaft gespiegelt werden. Sie würde die falschen Schlüsse aus authentischem Verhalten ziehen: ihnen Entscheidungsunfähigkeit, Gefährdung der Stabilität des Landes attestieren.

Der Schlüssel zur Niederlage

Der Zweifel ist der Schlüssel zur Niederlage, die Osteoporose fürs Rückgrat, das lernt man in der Schule - der Fassaden-Schmiede, schlechthin. Man lernt sichere Körperhaltung, den schulterbreiten Stand bei Referaten, den geraden Blick in Rhetorikkursen. Das schnelle Argumentieren und starke Meinungsvertreten in Debattierclubs, in nachgestellten Parlamentssitzungen und internationalen Konferenzen: wer überzeugt, gewinnt. Wer wovon überzeugt ist, ist uninteressant. Selbstbewusstsein ist längst nicht mehr nur das sich selbst-bewusst sein, sondern etwas nach Außen adressiertes, das ständig nach einem Auftritt sucht. Zweifler haben nichts auf der Bühne verloren. Schon gar nicht auf der politischen.

Krisen den nahrhaften Boden entziehen

Früher kamen die Zweifel in der Nacht, hat Hildegard Talotti gesagt. Wenn sie schon im Bett lag, es dunkel war und sie auf die drei Lichtstreifen wartete, die pünktlich um Mitternacht durch die Lamellen ihrer Marquise auf den Boden fielen. In letzter Zeit kommen die Zweifel auch unpünktlich untertags, wenn sie gerade auf dem Podium steht oder vor einer Kamera sitzt. Immer dann, wenn sie es am meisten braucht.

Denn mittlerweile ist sie erleichtert, dass sie der Zweifel verfolgt, hat sie gesagt. Zu zweifeln bedeutet, zu reflektieren, es ist ein Zugeben und ein Nachgeben. Der Reflexionsbedarf ist in dieser krisenbehafteten Welt gestiegen. Der Zweifel gibt ihr die Sicherheit, dass sich Gedankengebäude dekonstruieren lassen; und Krisen der nahrhafte Boden entzogen werden kann. Sie wünscht sich, dass eines Tages der Zweifel mit ihr auftreten darf. Mehr Ansehen gewinnt. Wer öffentlich zweifelt macht seine Gedankengänge transparent. Erlaubt dem Zuseher sich einzumischen, Zweifel zu äußern. Entscheidungen werden durch Zweifel getroffen.