Porträt eines exzentrischen Organisten

Cameron Carpenter ist zurzeit die schrillste, provokativste Erscheinung in der Klassikszene. Eine Mischung aus Jimmy Hendrix, Freddie Mercury und Wladimir Horowitz. Schon im Alter von vier Jahren ist er der Orgel verfallen und kämpft heute um mehr Sexappeal für das angestaubte Instrument. Nun verleiht Carpenter mit seinem exzentrischen Spielstil alten Stummfilmklassikern neuen Glanz.

Kulturjournal, 6.8.2015

Cameron Carpenter betritt die Bühne meist mit paillettenbesetzten Shirts und Stiefeln. 34 ist der Revolutionär mit Irokesenschnitt, eine schrille Erscheinung unter den international berühmten Orgelspielern. Manisch bearbeitet er die Klaviaturen und Pedale des sonst von der Kirchenmusik beherrschten Instruments. Bei ihm klingen die Pfeifen düster-lüstern als kämen die Töne aus der Höllenpforte empor.

"Ich bin ein Maximalist wenn es um Orgeln geht. Ich nutze alle ihre Mittel, die mir zur Verfügung stehen. Ich bin besessen von dem Instrument wie ein Nerd von seinem Computer. Und ich bin genauso besessen davon, es zu verändern", sagt Carpenter.

Deshalb rasen nun Carpenters Hände über Deutschlands einzig erhaltene Kinoorgel neben einer Leinwand. Der Organist mit Glamrockattitüde ist angetreten, eine Musikkultur wieder zu beleben: die Livebegleitung von Klassikern der Stummfilmära. Dafür probt er im Berliner Kino Babylon an seiner Improvisation des Vampirklassikers "Nosferatu".

"Immer wenn ich für 'Nosferatu' spiele, habe ich das Gefühl, Richard Wagner schaut um die Ecke. Da steckt viel Dunkelheit drin", so der Musiker: "Ich versuche mich den dunklen Ecken der Orgel herumzutreiben." Die Berliner Kinoorgel scheint wie gemacht für Cameron Carpenters Experimentierfreude. Denn sie enthält neben den klassischen Orgeltönen auch allerhand Effekte. Am Orgelspieltisch waltet Carpenter wie in einem Cockpit mit rund hundert Knöpfen, Schaltern und Hebeln über sie. Regen, ein Schiffshorn und Vogelgezwitscher versucht der Carpenter in seine "Nosferatu"-Improvisation einzubauen.

Carpenter tastet sich behutsam durch seine "Nosferatu"-Interpretation, weil er die richtige Atmosphäre für jede einzelne Szene sucht, sich der Geschichte des Films verpflichtet fühlt. Einige Orgelwerke von Bach passen dazu. Im Cabaret, Jazz und Swing sucht er nach dem authentischen Klang der Weimarer Republik. Auch das Publikum spielt dabei eine Rolle.

"Heute sehen wir Stummfilme mit den Augen von 2015. Wir sind an 'Avatar' von James Cameron gewöhnt. 'Nosferatu' und die Special Effects dieser Zeit wirken ziemlich albern. Für das Publikum in den 20ern war das ein Horrorfilm. Das macht es besonders schwierig, ich muss sehen wie das Publikum reagiert. Lassen sie sich vom Horror beeinflussen oder finden sie das lustig? Es ist vielleicht besser, dann in diese Richtung zu gehen."

Den "bittersüßen Klang einfangen"

Eine ungewohnte Arbeitsweise. Denn oft zerschellen unter Carpenters Fingern Partituren von Chopin oder Rachmaninoff, die er nach seinem Willen wieder zusammensetzt. Doch diesmal, auf der Berliner Kinoorgel, tritt der als Klassikerzertrümmerer verehrte wie umstrittene Organist zurück - und stellt sich ganz in den Dienst des Horrors und der düsteren Erotik von "Nosferatu".

"Ein Film wie 'Nosferatu' dauert anderthalb Stunden. Du musst in jedem Moment entscheiden, mit wieviel Energie Du auf der Orgel spiele, ohne den Höhepunkt des Films vorweg zu nehmen. Das funktioniert instinktiv. Aber Du musst auch zehn, 20 Minuten vorausdenken und dich an das erinnern, was du gerade gespielt hast. Du musst die gesamte Dramaturgie meiner Improvisation im Kopf behalten. Das ist eine extrem schwierig mentale Aufgabe, während ich auf dieser komplizierten Maschine spiele. Das aber macht Organisten zu richtigen Menschen."

Auch dem Stummfilmklassiker "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" nähert sich Carpenter bedachtsam an. Den schnellen Schnitten und rasanten Szenenwechsel will er gerecht werden. Und gleichzeitig dem Verlust, der Trauer über die zerstörte Kultur der Goldenen Zwanziger in Berlin, die der Film zeigt, Ausdruck verleihen.

"Ich sehe, 'Berlin - Sinfonie einer Großstadt' als eine Art Horrorfilm - vor dem Hintergrund der Geschichte. Mit dem Film taucht man ein in das Leben auf den Straßen des damaligen Berlins, Orte, die ich auch heute als Wahlberliner erlebe. Man kann aber auch erahnen, was Berlin heute sein könnte, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Deshalb ist der Film eigentlich sehr traurig, weil man diese unglaubliche Kultur dieser Hauptstadt erlebt, die unwiederbringlich verloren ist. Der Film hat für mich einen sehr bittersüßen Klang, den ich versuche mit der Kinoorgel einzufangen."