Kurzessay zu Johannes 6, 41 - 51
Nach der mittelalterlichen jüdischen Tradition bekam ein Knabe bei seinem ersten Schultag Tafeln, auf denen die hebräischen Buchstaben angeordnet waren.
8. April 2017, 21:58
Der Lehrer las die Buchstaben laut vor, vorwärts wie rückwärts. Dann träufelte er ein wenig Honig auf die Tafeln, welchen das Kind schließlich mit der Zunge ableckte.
Daraufhin brachte man dem Schüler kleine Kuchen, die mit Honig gebacken waren und die ebenfalls die süße Weisung Gottes symbolisierten, die Tora. Sie ist das Brot des Lebens, das der Schüler ab diesem Zeitpunkt täglich studieren und in sich aufnehmen soll. Damit spielte man im Judentum unverhohlen auf die christliche Praxis des Verzehrs der Hostie als Brot des Lebens an, durch das man Christus selbst aufnimmt. Was für die Christen die Hostie, war und ist für Juden die Tora. Tora wie Christus sind Wege zu Gott, beide mit der Metaphorik des Essens verbunden. Häufig wird über die Tora gesagt, dass sie Speise sei und lebensspendendes Wasser.
Dieser Ausschnitt des Johannesevangeliums stellt hingegen nicht Tora und Christus gegenüber, sondern das Manna der Israeliten mit dem Brot, das Christus ist. Damit wird Vergängliches mit Ewigem verglichen. Die Juden werden als unverständig erklärt, als von Gott verstockt, der den Menschen von seiner Geburt an vorausbestimmt.
Ich teile diesen Gedanken der sogenannten Prädestination nicht und ich habe auch große Vorbehalte gegen eine zumindest antijüdische Tendenz des Johannesevangeliums. Vielmehr möchte ich die Worte des Evangeliums mit größerer Vorsicht und mit dem Bewusstsein lesen, dass die Abgrenzung vom Judentum in der frühen Kirche auch mit Gehässigkeit und Polemik einherging, dass es aber gleichzeitig ein Miteinander gab, einen Austausch, der auch in schwierigen Zeiten nicht endete. Ich würde mir auch wünschen, dass der im Evangelium genannte Einwand der Juden einmal in den Kirchen ernstgenommen wird. Wenn sie sagen: „Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen“, dann erdet dieser Blick. Er macht Jesus wieder zu dem, was er als Mensch zeitlebens geblieben ist, nämlich ein Jude aus Galiläa. Gerade in jüngerer Zeit mehren sich auch in der christlichen Theologie wieder Stimmen, die diesen Umstand für unwesentlich halten. Umso mehr ist er zu betonen.
Ein Christusverständnis, das den Bezug zum Judentum kappt, eine Theologie, die beständig die Einheit Jesu mit Gott betont und zum Glauben fordert, entfernt sich von dem tief im Judentum seiner Zeit verwurzelten und darin um die rechte Auslegung der Bibel ringenden Jesus aus Nazaret, der – wie die Bergpredigt betont – nie etwas von der Tora, der jüdischen Weisung, wegnehmen will. Der Blick nach oben, zum göttlichen Heiland, hat über viele Jahrhunderte auch den Blick nach unten verstellt. Macht, Prunk und Herrlichkeit im Dienste des allmächtigen über die Himmel erhöhten Christus vertragen sich nur mäßig mit einer Kirche, die auf Erden die Not der Menschen nicht nur lindert, sondern zu beseitigen versucht, die ihre Kraft aus der jesuanischen Lehre gewinnt.
Der Glaube an den einen Gott, grundlegend für Judentum, Islam und Christentum, wurde in den christlichen Kirchen nicht selten durch die Verehrung des erhöhten Christus, des Gottessohnes, zugedeckt. Eine stärkere Betonung der Botschaft des irdischen Jesus könnte die Verbindung hingegen stärken. Dazu muss man aber der überhöhten Theologie des Johannesevangeliums die anderen synoptischen Evangelien Markus, Matthäus und Lukas geradezu korrigierend gegenüberstellen.