Kurzessay zu Johannes 6, 60 – 69
Seit Jahrzehnten kehren Menschen in vielen Ländern ihrer Kirche den Rücken. Schuld daran seien, so eine gängige Meinung, die vielen Störungen, welche das Verhältnis der Kirchen zu ihren Mitgliedern belasten. Von Irritationen ist die Rede.
8. April 2017, 21:58
Der katholischen Kirche beispielsweise wird vorgehalten, sie sei frauenfeindlich, sexualneurotisch, undemokratisch, vormodern, also out. Zu diesen Lang-Irritationen kommen noch neue Zeichen der Unglaubwürdigkeit wie die verheerenden Missbrauchsfälle von Kindern durch Priester und Bischöfe hinzu. Schon seit Jahrzehnten verlangen kirchliche Reformgruppen den Abbau dieser Irritationen. Ihr Erfolg hielt sich bislang in Grenzen. Nicht wenige setzen daher große Hoffnung auf den neuen Bischof von Rom, Papst Franziskus.
Es tröstet die Verantwortlichen, vor allem die unverdrossenen Kirchenliebhaber wie mich, nicht sehr, dass in den evangelischen Kirchen viele dieser Irritationen nicht gegeben sind und noch mehr Christen ihre Kirche verlassen. Vielleicht müssen evangelische Christinnen und Christen andere Störungen aushalten. Da tritt schon manch ein evangelischer Christ aus, wenn sich der Frontmann der evangelischen Diakonie kompromisslos für eine humane Flüchtlingspolitik einsetzt.
Das evangelische Beispiel lehrt uns aber, dass Irritationen für den Austritt zwar eine Rolle spielen, aber zumeist nicht entscheidend sind. Ich kann das an meinem eigenen Beispiel belegen. Wahrscheinlich bin ich als guter Kenner vieler hintergründiger Vorgänge in meiner katholischen Kirche im Land oder im Vatikan weit mehr irritiert als viele, die die Kirche verlassen haben. Und doch bleibe ich.
Ich finde mich im heutigen Evangelium in meiner zwiespältigen Lage wieder. Es erzählt von der ersten großen Austrittswelle aus der noch ganz jungen Jesusbewegung. Der Evangelist Johannes berichtet davon, in seine oftmals bildhafte Sprache verpackt. Jesus predigt und lehrt die junge Bewegung: Wer mein Fleisch nicht isst und mein Blut nicht trinkt, kann nicht gerettet werden. Etwas weniger bildhaft formuliert: Wer mit mir nicht eine so innige Gemeinschaft hat wie die aufgenommene Nahrung mit dem Körper, erlangt nicht das Ziel seines Lebens, die Vollendung in der Liebe.
Das provoziert viele: Es gibt keinen Heilsweg an ihm vorbei. Es nützt nichts, einfach nur moralisch perfekt zu sein. Entscheidend ist „to be connected“, verbunden zu sein, wie der amerikanische Franziskaner Richard Rohr formuliert. Auch das ist eine Irritation für viele, wenngleich eine viel radikalere, als die Kirchen heute liefern. An Jesus vorbei kein Heil. Denn er ist, so wird es Paulus im Brief an die Gemeinde in Kolossä formulieren, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, wir alle sind Zweit- und Drittgeborene. Er ist das Haupt der vollendeten Welt. In sie reifen die hinein, die Gottes Geist zu liebenden Menschen formt.
Wie Jesus auf die massenhafte Austrittswelle auf die von ihm ausgelöste Bewegung reagiert ist wie eine vorweggenommene Lektion für die heutigen christlichen Kirchen. Unvermittelt stellt er seinen engsten Kreis vor die Frage: „Wollt auch ihr gehen?“ Das mutet unglaublich modern an. Denn Jesus respektiert die Freiheit all jener Menschen, die sich seiner Bewegung angeschlossen haben. In seiner Bewegung gibt es keinen Zwang. Es herrscht Religionsfreiheit, Freiheit zur Nachfolge.
Dann aber lehrt uns das biblische Beispiel, worauf es ankommt, damit sich jemand in die Jesusbewegung einwählt. Entscheidend sind nicht die Störungen und Zumutungen, die Menschen vertreiben. Vielmehr kommt es auf starke Bindungskräfte an. Es ist Petrus, damals schon Wortführer in der Jesusbewegung, der das Wort ergreift. Dabei ist er nicht gar höflich: „Wohin sollen wir denn schon gehen“ – so eine richtige Alternative ist nicht in Sicht! Dann aber nennt er den entscheidenden Grund zu bleiben und weiterhin mitzuziehen: „Du hast Worte des ewigen Lebens!“ Mit Dir zu gehen macht Sinn! Du zeigst den Weg in die Vollendung, also in die Liebe!
Es wäre gut für die Kirche, die Freiheit der modernen Menschen zu respektieren. Es wäre aber noch besser, starke Bindungskräfte an das Evangelium zu fördern. Das musste die Kirche eine Konstantinische Ära lang nicht machen. Heute aber herrscht wieder der biblische Normalfall.