Literaturnobelpreis an Swetlana Alexijewtisch
Swetlana Alexijewtisch erhält den Literaturnobelpreis 2015 "für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt". Um 13.00 Uhr hat das die Vorsitzende des Nobelpreiskomitees verkündet. Welche Signale gehen von dieser Entscheidung aus?
8. April 2017, 21:58

AP/SERGEI GRITS
Was sind die literarischen Verdienste von Swetlana Alexijewtisch? - Darüber diskutiert Kristina Pfoser mit Erich Klein, Autor, Übersetzer und Staatspreisträger für Literaturkritik und mit Martin Pollack, vielfach ausgezeichnet als Autor und Übersetzer, nicht zuletzt mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Die weißrussische Dissidentin Swetlana Alexijewitsch gilt als Archäologin der kommunistischen Lebenswelt und Chronistin des Leidens der einfachen Menschen. Mit Büchern über Tschernobyl, den sowjetischen Afghanistankrieg oder die Rolle der Frauen beim Sieg der Roten Armee gegen Hitler-Deutschland hat sich die 1948 im ukrainischen Stanislaw geborene Schriftstellerin als moralisches Gedächtnis der zerfallenen Sowjetunion etabliert.
"Eigenen Ton eingeführt"
"Sie hat ein großartiges Werk hervorgebracht, und ich freue mich ganz besonders, dass eine Autorin aus Belarus diesen Preis bekommt", sagt Martin Pollack, der seit vielen Jahren mit Swetlana Alexijewtisch befreundet ist: Sie habe in der dokumentarischen Literatur einen ganz eigenen Ton eingeführt. "Diesen Roman in Stimmen, wo sie viele Interviewstimmen zu einem Chor zusammenfügt. Das ist ein großartiger literarischer Griff. In meinen Augen hat sie diesen Preis sehr, sehr verdient," so Pollack. Sie sei einige Jahre so hoch gehandelt worden, relativiert Erich Klein, dass es eine Überraschung gewesen wäre, wenn sie diesen Preis nicht bekommen hätte.
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Die ersten Bücher
Swetlana Alexijewtisch war eine "anfänglich sehr typische Perestroika-Autorin", so Klein, die heute als russische Autorin gehandelt und auch gefeiert wird. "Sie ist in der Perestroika großgeworden, ist damals auch in den sowjetischen Schriftstellerverband eingetreten. Ihre ersten Bücher - über den Afghanistan-Krieg, über den Zweiten Weltkrieg - hatten fast Millionen-Auflagen. Es gab ein Bedürfnis nach dieser Art von dokumentarischer Literatur. Relativierend muss man dazusagen, dass das ein Genre war, das in einigen osteuropäischen Literaturen durchaus in war." Dieses Genre, so Klein, habe Swetlana Alexijewtisch für sich fruchtbar gemacht.
"Wir sind an der Misere schuld"
"Sie gehört zu dieser großen Masse spätsowjetischer Intellektuellen, die in den Westen gegangen sind. Und plötzlich kommt sie mit einer extrem interessanten Aussage zurück: 'Wir Intellektuellen sind an der heutigen Misere schuld', das hat sie in vielen Interviews gesagt, und das finde ich unglaublich imposant", so Klein. Heute könne man das von europäischen oder anderswo lebenden Intellektuellen nicht hören.
Jerofejew: gemischte Gefühle
Reaktionen sind bisher einhellig positiv, eine prominente skeptische Stimme kommt aus Russland vom Autor Viktor Jerofejew. Es sei ein Feiertag für alle, die allgemeinen menschlichen Werte würden gewürdigt, aber: "Der Nobelpreis sollte ein Literatur- und kein politischer Preis sein. Ich glaube, dass dieser Preis Swetlana schützen könnte, und ich freue mich für sie. Aber ich glaube nicht, dass dies eine gute Richtung für den Preis ist - von Land zu Land zu ziehen und die Menschen zu schützen." Er habe gemischte Gefühle: Er sei glücklich für Swetlana Alexijewitsch, aber nicht glücklich für den Nobelpreis.
Empfohlene Einstiegslektüre
Martin Pollack: "'Secondhand-Zeit', ihr letztes Buch, ist ein großartiges Buch, wo man auch sehr viel über Russland, über den Geist dort und über die Geschichte verstehen lernt. "Auch 'Der Krieg hat kein weibliches Gesicht' ist ein großartiges Buch - so etwas über den Zweiten Weltkrieg kenne ich sonst nicht." Das sei eine Dekonstruktion des Zweiten Weltkriegs, ergänzt Erich Klein, "das hat sonst niemand gemacht. Allein dafür ist sie mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen."
Die mit acht Millionen Kronen (rund 860.000 Euro) dotierte Auszeichnung ging im Vorjahr an den Franzosen Patrick Modiano (70) für seine "Kunst der Erinnerung", mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen habe. Letzte deutschsprachige Preisträgerin war Herta Müller im Jahr 2009. Offiziell überreicht werden die Nobelpreise in Stockholm am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.
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Swetlana Alexijewtisch
Hanser Berlin - Swetlana Alexijewitsch