Von Massimo Livi Bacci

Geschichte der Migration

"Leben ist Bewegung": Der italiensiche Demograpf und Politiker Massimo Livi Bacci legt "Eine kurze Geschichte der Migration" vor und sagt auf 160 Seiten, was zum Thema Migration zu sagen ist.

Kontext, 16.10.2015

Die ganze Menschheitsgeschichte ist eine Migrationsgeschichte, die Gründe für die Migration haben sich allerdings nie wesentlich geändert: es geht um möglichst ideale Verhältnisse, um die Ernährung, die Fortpflanzung und die Sicherheit zu gewährleisten.

Was sich in der Jahrtausende währenden Migrationsgeschichte geändert hat, ist das, was man Migrationspolitik nennen könnte. Weil man von einer solchen erst sprechen kann, seit es ein Staatswesen gibt, verkürzt sich die Angelegenheit enorm. Im Mittelalter waren Herrscher daran interessiert, Menschen von den Zentren an die Reichgrenzen zu bringen.

Mit anderen Worten: man machte ihnen die nicht ungefährliche Ansiedlung in bis dahin menschenleeren Gegenden schmackhaft, durch die Streichung von Abgaben etwa oder der unentgeltlichen Überlassung von Grund und Boden. Das war eine Ansiedlungspolitik, die in die Zukunft gerichtet war. Wenn das Land urbar gemacht war, wenn sich Dörfer und Gemeinden gebildet haben, wenn die Bevölkerung zahlenmäßig zunimmt, ist schließlich auch für den Herrscher viel gewonnen.

Diese geplanten Migrationsbewegungen, die etwa dazu führten, dass Deutsche an die Wolga oder nach Siebenbürgen auswanderten, waren aufgrund der großzügigen Raumverhältnisse unproblematisch. Zu einem Problem wurde Migration erst, als sie Verdrängung zur Folge hatte, wie ab dem 17. Jahrhundert im Zuge der Kolonisierung. Da prallten unterschiedliche Kulturen und Interessen aufeinander, die gewaltsame Konflikte zur Folge hatten.

Seither ist Migration ein Problemfeld, in dem es auch immer darum geht, wie Regierungen, ob autokratisch oder demokratisch, Wanderungsbewegungen organisieren, regeln oder auch zu verhindern trachten.

Man kann sagen, dass im Jahr 2013 die Gesamtzahl der Migranten ungefähr 232 Millionen beträgt, also 3,2 Prozent der Weltbevölkerung. Jeder neunte Mensch in den reichen Ländern hat eine Migrationsgeschichte hinter sich. Massimo Livi Bacci weist aber auch auf die Tatsache hin, dass sich Migration nie abwenden ließ und lässt. Wirtschaftliche Not hat im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu Massenbewegungen von Europa nach Nord- und Südamerika geführt.

Restriktive Regeln haben das Tempo der Bewegung verlangsamen, nie aber aufhalten können. Auch Grenzzäune konnten das nie, wie die Einwanderung von Mexikanern in die USA zeigt. Und auch in Europa können noch so scharfe Bestimmungen die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass Menschen Grenzen überwinden, um Notlagen zu entkommen. Nationalstaaten sind Konstrukte, Nationen sind keine naturgegebenen Tatsachen sondern, wenn man so will, Behauptungen, die sich auf einen gemeinsamen Nenner stützen. Die Sprache etwa. Bei der Religion wird’s schon heikel. Jede Nation ist ein Amalgam, jede Kultur ein Produkt von Durchmischungen.

Dazu kommt, dass Demografen genau wissen, dass die Geburtenrate sinkt, sobald die Lebensverhältnisse einigermaßen sicher sind. In Europa sind die Geburtenraten niedrig, deshalb braucht der Kontinent einen steten Zuzug, um nicht zu überaltern und zu schrumpfen. Weil Zuzug aber auch bedeutet, dass anderen Ländern Menschen abhanden kommen, vor allem solche mit guter Ausbildung, fordert Massimo Livi Bacci eine internationale Koordination – wissend allerdings, dass nationale Regierungen gegenwärtig nicht bereit sind, die Frage der Zuwanderung einer höheren politischen Ebene zu überantworten. Deshalb kann er nichts anderes tun, als die migrationspolitischen Fehler aufzulisten und Wünsche zu formulieren.

Was immer auch die Zukunft bringt, die kurze Geschichte der Migration zeigt, das wir sind, was wir sind, weil zu unser aller Identität die Bewegung und die Durchmischung gehören.

Service

Massimo Livi Bacci, "Kurze Geschichte der Migration", Wagenbach