Das Leben der Edith Piaf

Als zerzauster kleiner Vogel steht sie zum ersten Mal auf der Bühne. Sie ist 19 Jahre alt und trägt einen selbstgestrickten Pullover, an dessen einem Ärmel noch ein Stück fehlt.

  • Edith Piaf, 1947

    Edith Piaf, 1947

    AP

  • Edith Piaf, 1959

    Edith Piaf, 1959

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Der Impresario Lous Leplée hat sie von der Straße aufgelesen, fasziniert von ihrer Stimme, und lässt sie in seinen Club "Le Gerny's" auftreten. Er gibt ihr auch den Namen, der ihr bleibt: Piaf, der Spatz.

Édith Giovanna Gassion wird am 19. Dezember 1915 geboren, wahrscheinlich im Krankenhaus Hôpital Tenon. Später bilden sich Gerüchte: sie sei auf dem Gehsteig auf die Welt gekommen, auf dem Mantel eines Polizisten, oder wenigstens im Hauseingang.

Sicher ist: ihre ersten Lebensjahre verbringt sie in großer Armut; der Vater, ein fahrender Akrobat, ist weg, die überforderte Mutter vernachlässigt sie. Der Vater findet die Dreijährige in erschreckendem Zustand, bringt sie zu ihrer Großmutter aufs Land - sie ist Aufseherin im Bordell des Städtchens Bernay, wo Édith weiter aufwächst.

Mit sechs oder sieben Jahren nimmt der Vater sie auf die Reise mit. Édith lernt das Leben auf der Straße, und vor Publikum zu singen. Sie kennt das Leben der kleinen Leute, der Prostituierten, sie kennt es nur zu gut und wird es in manchen sozialkritischen, oder zumindest "realistischen" Chansons überzeugend wiedergeben.

Nach ihrem Debüt im "Gerny's" im Oktober 1935 geht es Schlag auf Schlag: Piaf ist mehrmals hintereinander in der Radiosendung von Jacques Canetti zu Gast, dem Bruder des Nobelpreisträgers, sie macht erste Aufnahmen und hat bald danach ihren ersten Auftritt in einem Film, es ist La Garçonne, Édith Piaf singt darin das trotzige Chanson "Quand même".

Medium für Medium wird sie für sich erobern: die großen Theater und "Music-halls" der Hauptstadt, ABC, Bobino, Moulin Rouge … Sie nimmt Schallplatten auf, wirkt in Filmen mit. Während der deutschen Okkupation geht sie in den Süden, kehrt aber zu Auftritten nach Paris zurück, reist sogar nach Berlin. Opportunistisch? Andererseits unterstützt sie jüdische Musiker wie den Pianisten Norbert Glanzberg – der einen ihrer großen Erfolge schreiben wird "Padam padam".

Édith Piaf wird – nicht leicht für eine Französin – auch den amerikanischen Markt erobern, wird ihr Repertoire und ihre Präsentation an die Erwartungen des amerikanischen Publikums anpassen. Und in den USA Anregungen erfahren, die sie wieder mit nach Europa bringt – sogar einen Song der Rock 'n' Roll-Komponisten Leiber/Stoller wird sie mit französischem Text aufnehmen ("L'homme à la moto").

Sie ist eine ungemein wandlungsfähige Künstlerpersönlichkeit, die sich immer wieder neu definiert, professionelle wie persönliche Niederlagen überwindet, immer wieder neu beginnt. Eines bleibt ihr verwehrt: dauerhafte Liebe.

Mit vielen, beinahe allen ihrer künstlerischen Partner hat sie Affären – und umgekehrt, macht Liebhaber zur künstlerischen Partnern, die Liste ist beeindruckend (und unvollständig): Raymond Asso, Yves Montand, Charles Aznavour, Georges Moustaki ... Viele fördert und entdeckt sie. Aber Partner kann sie nicht halten, oder behandelt sie so schlecht, dass sie die Flucht ergreifen.

Ihre große Liebe, der Boxer Marcel Cerdan, stürzt 1949 mit dem Flugzeug ab. Oder blieb er nur wegen seines Todes die große Liebe? Das Thema der Kindheit scheint sich zu wiederholen – das Fehlen dauerhafter Bezugspersonen.

Édith Piaf nimmt Zuflucht in Morphium und Alkohol, geht in Konzerten und auf Tourneen aber weiterhin an und über ihre Grenzen. "Jedes Mal, wenn sie singt, meint man, sie risse sich ihre Seele zum allerletzten Mal aus dem Leib", schreibt ihr langjähriger Freund Jean Cocteau.

Piafs ausgebeuteter Körper gibt am 10. Oktober 1963 für immer nach, Piaf ist noch nicht 48. Sie stirbt zweimal: zunächst im südfranzösischen Grasse, aber ihr Leichnam wird umgehend nach Paris gebracht, wo offiziell der Tod festgestellt wird. Zehntausende Menschen kommen, um sie ein letztes Mal zu sehen, eine halbe Million Menschen begleitet den Begräbniszug.

Edith Piaf, 1962

Edith Piaf, 1962

AP/LEVY