György Kurtág zum 90. Geburtstag

Theater ohne Theater

Der Pianist spielt C-Dur. In fünffachem Pianissimo tastet sich eine nackte Tonleiter abwärts. Sie wird ihr potenzielles Ziel - den Grundton - nie erreichen. Knapp davor versiegt die Tonleiter im Ton D. Gleichzeitig beginnt wiederum eine neue C-Dur-Tonleiter ihren Weg, nur um noch früher zu verklingen. Vorsichtig umhüllen Gongs, Schellen, Glöckchen und Bambusspiel die Fragmente einsam fallender Tonleitern mit feinem Klirren.

"Mir klimpern und summen manchmal tausend Instrumente in mein Ohr", gesteht der wilde Caliban in "Der Sturm", und György Kurtág erwähnt diesen kurzen Monolog als eine in ihrer Widersprüchlichkeit für ihn und die Klangwelt des Stücks entscheidende Passage. Wenige Augenblicke, nachdem Caliban noch empfohlen hat: "Zerspalte ihm den Schädel, oder treib ihm einen Pfahl in seinen Bauch", fährt er fort, seine Vision himmlischer Musik zu schildern: "Und manchmal Stimmen, die mich, auch wenn ich nach langem Schlaf erst eben aufgewacht, zum Schlafen wieder bringen; dann im Traume war mir, als täten sich die Wolken auf und zeigten Schätze, die gerade auf mich fallen wollten, dann erwachte ich und weinte, weil ich wieder träumen wollte." "…quasi una fantasia..." heißt jenes Stück von György Kurtág, das so beginnt.

Es ist eines jener Stücke, mit denen der mittlerweile bekannte und gefeierte ungarische Komponist Kurtág Ende der 1980er Jahre plötzlich berühmt wurde. Das Stück für Klavier und Ensemble, komponiert 1987, ist viersätzig, aber nicht einmal acht Minuten lang. Ich sollte damals einen Text über dieses Stück verfassen, und weil mir - obwohl davon nirgends die Rede war - das Stück sehr theatralisch erschien, fand ich Kurtágs Telefonnummer in Budapest heraus, rief an und erkundigte mich nach gewissermaßen geheimen, theatralischen Programmen. György Kurtág erzählte daraufhin, dass es circa 30 Jahre her sei, dass er in Budapest zu einer Aufführung von "The Tempest" von William Shakespeare eine Theatermusik geschrieben habe, und dass gewissermaßen eine Erinnerung daran tatsächlich durch diese Musik schwebe.

"We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep"

Die Utopie himmlischen Klingens ertönt von überall und ist doch zu weit weg. "Verteilt überall im Saal", schreibt die Partitur nicht nur den Perkussionisten, sondern auch den drei Gruppen des kleinen Orchesters und jenen vier Mundharmonikaspielern vor, die die Introduzione, den ersten Satz, beenden. Der Klang der "tausend Instrumente" entbehrt einer lokalisierbaren Herkunft, die Musik der Luftgeister schwebt im Raum rund um die Folgen nackter Klaviertöne.

"Ein Traumeswirren" schreibt Kurtág über den extrem dichten, flüchtigen und schnellen zweiten Satz, die "disperato"-Schläge des dritten evozieren eine Dies-Irae-Stimmung, und der vierte kreist schwebend wie um sich selbst, wie erschöpft, weder glücklich noch unglücklich, vergänglich und vergehend. Eine Wehmut ist in diese Gelassenheit verwoben, mit einer Heiterkeit, die um ihre Trauer weiß. "Sei heiter! Das Fest ist jetzt zu Ende", sagt abgründig Prospero auf der seinen, klingenden, traumeswirren Insel, "Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind, und unser kleines Leben umgibt ein Schlaf."

2013 hätte das RSO Wien bei den Salzburger Festspielen eine von Alexander Pereira in Auftrag gegebene Oper von György Kurtág uraufführen sollen. "Fin de partie" steht auf einem handschriftlichen Particell des "Prologue", das "Endspiel" von Samuel Beckett soll also zur ersten Kurtág-Oper werden, aber noch wartet die Welt auf mehr als nur ein Particell des Prologs.

Dass Kurtágs Musik eine starke Affinität zum theatralischen Fach hat, obwohl es noch kein Musiktheater-Werk von ihm gibt, prägt oft die nervöse, so intensive wie expressive, wenn auch oft leise Stimmung seiner Werke. Das Immanent-Theatralische der Musik György Kurtágs lässt sich nicht nur an den Liederzyklen ablesen, die man als verkappte Opernminiaturen hören kann, sondern auch an Kurtágs Ensemblemusik. Und nachdem uns die Kurtág-Oper nach Samuel Beckett einstweilen verwehrt bleibt, noch ein Blick auf eine frühere Beckett-Vertonung durch Kurtág.

Zweifel an der Sprache

Um 1990 fand Kurtág einen Text von Samuel Beckett, der als Becketts letztes Gedicht bezeichnet wurde: "What is the Word". Und mitten im anbrechenden Rummel um die geplante Uraufführung mit Claudio Abbado im Wiener Musikverein schreibt Kurtág ein Stück, das eine Viertelstunde lang dem Zweifel an der Sprache gewidmet ist, um schließlich in einer Art ausformuliertem Verstummen zu enden.

Kurtágs Musik zu diesem Beckett-Text trumpft nie mit musikalischem Gestus auf, versteckt sich nicht hinter kompositorischer Virtuosität. Seit seiner Uraufführung 1991 geht mit diesem Stück sogar der Mythos einher, es sei letztendlich ein einstimmiges Stück. Und Kurtág selbst beschrieb - noch während der Entstehung - das Werk als "nur unisono oder leicht heterophonisch". Als die Kurtág'sche Vertonung dieses Gedichts uraufgeführt werden sollte, war die Aufregung hinter den Kulissen zeitweise groß, als ein Manuskript eintraf, das tatsächlich bloß wie eine einstimmige, leicht verzierte Melodie aussah.