Bibelessay zu Genesis 15, 5 – 12. 7 – 18
Gott sprach also zu Abraham: Sieh zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Dies erzählt die Genesis, das erste Buch des Alten Testaments.
8. April 2017, 21:58
Zu diesen Nachkommen zählen sich heute Juden, Christen und Muslime. Alle drei Religionen berufen sich auf Abraham als ihrem Urahnen Deshalb wird diese biblische Erzählgestalt im interreligiösen Dialog auch gerne herangezogen, um das Miteinander der drei Religionen theologisch zu begründen. Man spricht dann von „Abrahmitischer Ökumene“ oder „abrahamischen Religionen“.
Aber so einfach ist das nicht. Man wird wohl eher bescheidener von Begegnung im Zeichen des Abraham sprechen müssen. Denn wohl bewahren die verbindlichen Texte aller drei Religionen die Erinnerung daran, dass Abraham weder Jude noch Christ noch Muslim ist. Aber im Verlauf ihrer Traditionsgeschichte wird Abraham von Juden, Christen und Muslimen als Idealtypus des jeweils eigenen Glaubens dargestellt.
Im Judentum wird Abraham zu einem Art „Urrabbi“, der als Nicht-Jude und ohne Torah dennoch nach dem Gesetz Gottes lebt. Im Christentum wird Abraham zum vorchristlichen Typos des rechten christlichen Glaubens, wodurch das jüdische Volk enterbt wird. Und im Islam gilt Abraham als Kronzeuge dafür, dass es „Islam“ – also den wahren Glauben, den dieser lehrt – schon vor Mohammed gegeben habe.
Alle drei berufen sich auf Abraham und alle drei beanspruchen ihn als ihr Eigentum. Damit gehört auch der Streit um Abraham zum interreligiösen Dialog. Und so wird dann auch um den Besitz des Landes gestritten, das Gott den Nachkommen Abrahams versprochen hat. Die Abraham-Tradition kann also auch trennen und zu Krieg führen.
Die Figur des Abraham muss also keinesfalls automatisch zur Einigung der drei Religionen in Bekenntnis, Praxis und Gemeinschaftsstruktur führen. Eine solche Einigung ist auch gar nicht nötig: Denn ein Zurück zu einem religiös einfachen Leben vor Gott – ohne Kirche oder religiöses Gesetz – ist nicht nur ungeschichtlich und naiv; eine solche Sicht übersieht auch, dass Abraham für keine der drei Religionen die zentrale Gründungsgestalt ist.
Der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel schlägt vor, Abraham stattdessen als selbstkritisches Korrektiv wahrzunehmen – ein Zeichen, das Juden, Christen und Muslime lehrt, dass auch Menschen, die nicht der eigenen Tradition angehören, Zugang zum Heil haben. So kann das rabbinische Judentum lernen, dass Gottes Segen nicht nur Israel gilt; dem Christentum wird eingeschärft, dass die erste Verheißung den leiblichen Nachkommen Abrahams, also den Juden, gilt – und sie selbst durch Jesus Christus hinzu erwählt sind. Ebenso kann es lernen, dass auch der verstoßene Abraham-Sohn Ismael, von dem sich die Muslime herleiten, Respekt verdient. Dem Islam schließlich kann durch Abraham bewusst werden, dass Juden und Christen schon vor ihm Abraham nachgefolgt sind.
Abraham ruft also alle seine Nachkommen dazu auf, selbstkritisch voneinander zu lernen. Er ist eine Quelle einer Nachkommensgemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht, den sie der ganzen Menschheit verheißen soll – und das ist ihre zentrale Aufgabe! Wenn auch auf verschiedene Weise, verweisen sie doch alle auf den einen Gott, den sie loben und preisen sollen, indem sie gemeinsam für den Glauben, für Gerechtigkeit und Frieden eintreten.
Juden, Christen und Muslime sind also eine Segensgemeinschaft und eine ethische Weggemeinschaft. Auf je ihre Weise sollen sie im Dienst Gottes der einen Menschheit zum Segen werden. Der Verweis auf die geteilte Herkunft in Abraham wiederum erinnert alle drei daran, dass der Segen Abrahams nicht zu erreichen ist, wenn die je anderen ignoriert, diffamiert oder gar bekämpft werden. Abraham als Ahne und Stammvater von Juden, Christen und Muslimen verbindet und unterscheidet also jene, die sich als seine Nachkommen verstehen.
Damit diese Unterscheidung keine Trennung wird, die der Menschheit schadet, sind Juden, Christen und Muslime zum Dialog verpflichtet. Die Erinnerung an Abraham und das Versprechen Gottes auf Nachkommen so zahlreich wie die Sterne ist eine Einladung zu wechselseitiger Gastfreundschaft und Gespräch.