"Son of Saul": Aufstand in Auschwitz

Holocaust-Filme - der Versuch, das, was sich in den Nazi-Konzentrationslagern abgespielt hat, im Film darzustellen - gelten als eigenes Kinogenre. Der ungarische Regisseur Lászlo Nemes versucht mit seinem Film "Son of Saul" einen neuen Weg zu gehen. Ein Weg, für den er schon ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Morgenjournal, 15.3.2016

Ein Rabbi muss her!

Das sogenannte Sonderkommando im KZ Auschwitz-Birkenau war ein Arbeitskommando von jüdischen Häftlingen, die gezwungen wurden, bei der Ermordung von Juden in den Gaskammern mitzuwirken. 1944 kam es zu einem bewaffneten Aufstand des Sonderkommandos. Genau an diesem Punkt siedelt der ungarische Regisseur Lászlo Nemes seinen Film "Son of Saul" an, der im Genre des Holcaust-Films einen völlig Weg der Aufarbeitung gehen will. Dafür gewann er letztes Jahr nicht nur den Großen Preis der Jury beim Filmfestival von Cannes, sondern kürzlich auch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Kann man das Grauen der Konzentrationslager im Film darstellen? Seit sich das Kino am Holocaust abarbeitet, wird es von dieser Frage begleitet um vorzugsweise mit inszenierter Abbildung zu scheitern. Der ungarische Regisseur Lászlo Nemes stellt sich mit seinem Film "Son of Saul" dieser Debatte von vornherein nicht. Er will nicht das Grauen von außen zeigen, er will es von innen aufbrechen, über ein Individualschicksal.

Leiche des Sohnes?

Saul (Géza Röhrig) ist Angehöriger des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz. Ihn begleitet die Kamera auf Schritt und Tritt durch eine psychologisch kaum fassbare Herausforderung: an der Massenvernichtung mitzuwirken und mittelfristig selbst Opfer zu werden. Zu sehen, was einem selbst passieren wird, ist der Wahnsinn, der in den Wahnsinn führt. In der Leiche eines Buben glaubt Saul seinen Sohn zu erkennen, den er - koste es was es wolle - nach jüdischem Ritual bestatten will. Ein Rabbi muss her!

Restbedürfnis nach Menschlichkeit

Dort wo jeglicher Lebenssinn abhandengekommen ist, jegliche Menschlichkeit und Würde, beharrt Saul auf einer Obsession, um genau damit sein Restbedürfnis nach Menschlichkeit, Sinn und Würde zu bedienen. Sauls inneres Chaos übersetzt Regisseur Nemes in eine Art Fiebertraum mit Risikoaufschlag. Weil es hier nicht um das Sehen geht, sondern um das Fühlen hat Lászlo Nemes eine innerhalb des Holocaust-Films einzigartige, radikale Dramaturgie und Bildsprache erschaffen, inklusive kalkulierter Irritation auf der Tonspur, etwa wenn das Sonderkommando im Akkord Asche in einen Fluss schaufelt.

Die Lebenden für die Toten verraten!

Mittels konsequenter Unschärfe im Bildhintergrund schärft Regisseur Nemes die Sinneswahrnehmung des Kinozusehers. Man sieht es kaum und weiß es dennoch genau, wenn das Sonderkommando Koffer stapelt, Kohle schaufelt, Kleidung einsammelt und nackte Leichen über den Boden schleift. "Dieser Horror sollte eben nicht direkt gezeigt werden", so Lászlo Nemes. Nemes schürt das Tragische, indem er darin auch das Groteske hervorbringt; das Groteske, das der Film in einem Satz mehrdeutig verschmilzt. Als der völlig in seine Illusion eingetauchte und weggetretene Saul einen Aufstand des Sonderkommandos gefährdet muss er sich einen grundsätzlichen Vorwurf machen lassen: Du hast die Lebenden für die Toten verraten!