Von Wolfgang Ulrich

"Der kreative Mensch"

Nichts wäre Homer fremder gewesen als die Idee, sich als Urheber seiner Werke zu betrachten, schreibt der Münchener Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Essayband "Der kreative Mensch". Der Grund ist simpel: Weder Homer noch seine Zeitgenossen sahen sich als wahre Künstler. Ihre Kreativität verdankten sie Gott, der sie als eine Art auserwählten Kommunikationskanal benutzte, um sich durch sie mit seiner göttlichen Stimme zu melden.

Kontext, 15.04.2016

Wir dagegen, in unserer gottlosen, kapitalistischen Gegenwart, haben längst unser innerstes Selbst als die Quelle genialer künstlerischer Einfälle entdeckt. Zugleich ist das Künstlersein aber zum Zwang geworden: Heute suchen wir alle mehr oder weniger verzweifelt in der Kreativität unser erlösendes Glück.

Die Idee vom kreativen Menschen sei zur Beschwörungsformel geworden, meint Ullrich. Mit ihr versuchen wir, die Sinnlosigkeit unserer Existenz erträglicher zu machen. Darüber hinaus, ist Ullrich überzeugt, kann der Hype um Kreativität aber auch einen neuen gesellschaftlichen Kitt schaffen. Nicht Gott, sondern mein Facebookfreund hat mich heute inspiriert. Ich bin ihm dankbar und gebe die Inspiration auf Umwegen weiter.

Wolfgang Ullrichs Buch "Der kreative Mensch" ist eine kurzweilige Zusammenfassung kulturwissenschaftlicher Theorien zur Kreativität. Auf ein spannendes, aber auch unvorhersehbares Terrain begibt er sich, wenn er sich den digitalen Entwicklungen widmet. Denn ob das Posten, Teilen oder Rebloggen wirklich soziales Engagement ist oder eher Zeichen eines klug inszeniertes Narzissmus, bleibt fraglich.

Gestaltung: Hanna Ronzheimer

Service

Wolfgang Ullrich, "Der kreative Mensch. Streit um eine Idee", Residenz Verlag