Der armenische Völkermord - Geschichte als Gerangel um Identität
Geschichte - das sind oft rivalisierende Erzählungen, Erinnerungen, mündlich und schriftlich weitergegeben. 100 Jahre nach dem armenischen Völkermord streiten die Türkei und Armenien immer noch über die Deutung der Greueltaten an der armenischen Bevölkerung. Diese Woche war die Veranstaltung "Ungewisse Wege. Flucht, Vertreibung, Genozid zur Zeit des Ersten Weltkrieges" in Amstetten, der Ort des Treffens der erbitterten Identitätswidersacher.
8. April 2017, 21:58
Ein sommerlich träger Vormittag in Amstetten. Das Café am Hauptplatz ist schon gut besucht. Neben dem Eingang zwei ältere Frauen, die wie jahrzehntelange Stammgäste wirken und das hiesige Treiben inspizieren, während sie das Biskuit zum Morgenkaffee genüsslich in die Tasse tunken. Draußen mag die Weltpolitik toben, hier scheint alles wohlig unberührt. Dabei ist die Politik gar nicht weit weg. Umkämpfte europäische Identitätspolitik, um genau zu sein. Eine Straße weiter, im Rathaus treffen nämlich türkische und armenische Historiker aufeinander. Die Organisatoren verweisen gleich eingangs auf die gewünschte Wissenschaftlichkeit der Debatte.
Flüchtlingskrise eine mediale Blase?
Peter Gatrell spaziert mit Tweed-Sacko an Kaffee und Kuchen vorbei. Klassisches britisches Understatement vom Historiker aus Manchester. Für Gatrell ist die hyperventilierende Berichterstattung über die Flüchtlingskrise eine mediale Blase. Historisch betrachtet, wäre unser Zeitalter nicht so viel anders als die 1920er oder die 1940er Jahre.
Direkt vor dem Podium in der ersten Reihe schreibt der junge Mann von der türkischen Botschaft eifrig mit als Hayk Demoyan, der Direktor des Genozid Museums in Jerewan, über den armenischen Völkermord spricht. Demoyan hörte die Geschichten aus den Jahren 1914 bis 1922 schon als Kind. Auch er wird die Erzählung weitergeben, dass die Familie aus einer Stadt stammt, die heute in der Türkei liegt.
20 Staaten sprechen offiziell von Genozid
Für westliche Historiker gibt es keinen Zweifel am Genozid an den Armeniern. Rund 1,5 Millionen Tote und 300.000 Vertrieben - so die nüchternen Zahlen. Mehr als 20 Staaten unterstützen diese Sichtweise und sprechen offiziell von Genozid.
Vahap Polat ist nicht überzeugt. Der türkische Journalist Polat zweifelt die Existenz von Massengräbern an und verweist seinerseits auf Massaker an der muslimischen Bevölkerung. Für Polat wie für viele Türken ist diese Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben. Und diese Geschichte ist keine Allerweltsgeschichte - sie erzählt vom Fundament der armenischen und der türkischen Identität.
Armenien ist einer der Stachel im Fleisch der modernen Türkei. Jeder Versuch einer neuen Erzählung rüttelt am eigenen Selbstverständnis. Selbst Mustafa Kemal Atatürk, Gründungsvater, spielt hier eine Rolle. Nur eben nicht als Held. Für Hayk Demoyan ist Atatürk nämlich ein gewöhnlicher Verbrecher, der höchstpersönlich Blut an den Händen und Armenier auf dem Gewissen hat.
Die Stimmen der Flüchtenden selbst
Flüchtlinge, die ihre Geschichte aktiv selbst schreiben - und daraus den Kern eines neuen Selbstverständnisses formen - für Peter Gatrell ist die Geschichte der armenischen Überlebenden typisch.
Ob als Gefahr, Sicherheitsrisiko oder kulturelle Bereicherung - die aktuelle Kategorisierung von Flüchtlingen blendet eine Dimension meist aus: die Stimmen der Flüchtenden selbst. Dabei zeigt gerade die Geschichte des armenischen Völkermordes, dass ein stummes oder lautes Nebeneinander der Erzählungen nicht hilft.
Dass auch in Österreich der englische Begriff refugee immer häufiger benutzt wird, könnte einen Wandel signalisieren. Für Peter Gatrell jedenfalls ist es kein Zufall. Ein neues Bewusstsein für die globale Dimension von Fluchtbewegungen könnte dahinter stehen, so Gatrell.