Saura würdigt Folklore in "Argentina"

Bomben und Poesie, Sex und Religion, Autobiografisches und Politisches, Kunst, Musik und Tanz. Kaum ein filmisches Oeuvre ist so vielschichtig und thematisch breit gefächert, wie jenes des mittlerweile 84-jährigen spanischen Filmemachers Carlos Saura. Mit "Zonda, folclore argentino" (dt. "Argentina") hat er nun einen Musikfilm realisiert, in dessen Zentrum argentinische Folklore steht.

Carlos Saura, Jimena Teruel und Chaqueo Palavecino

Carlos Saura, Jimena Teruel und Chaqueo Palavecino

FILMLADEN FILMVERLEIH

Kulturjournal, 3.8.2016

Anfangs geprägt vom Neorealismus, später von seiner engen - künstlerischen wie privaten - Freundschaft zu Luis Bunuel, thematisierte Saura in seinen Filmen den Spanischen Bürgerkrieg ebenso wie das Leben im Franco-Regime oder Folter und Repression in den südamerikanischen Militärdiktaturen. Die staatliche Zensur zwang Saura dabei zu einer unterschwellig subtilen und oft kaum greifbaren Kritik, die seine Filme zugleich aber auch prägte. Vielfach ausgezeichnete Filme wie "La caza" oder "Ana y los lobos". Ab den 1980er Jahren holte Saura dann, etwa in seiner Oscar-nominierten "Carmen"-Verfilmung oder in Musikfilmen wie "Tango", immer wieder seine zweite große Leidenschaft, die Musik und den Tanz auf die Leinwand.

Stars der argentinischen Musik

Eine leere Bühne: Scheinwerfer werden eingerichtet, ein Flügel wird gestimmt. Dann blickt die Kamera in den Spiegel, auf sich selbst und Carlos Saura steckt den Rahmen ab, innerhalb welchem sich die Musiker und Tänzer, die er versammelt hat in den folgenden rund 90 Kinominuten bewegen werden. Es sind Stars der argentinischen Musik wie Soledad Pastorutti, Liliana Herrero oder Luis Salinas, die Saura auf der Bühne zwischen choreografierten Sequenzen, in einem Spiel aus Licht und Schatten auftreten lässt.

Dabei beschränkt sich Saura darauf, die Musiker beim Spielen zu zeigen, sie werden nicht namentlich vorgestellt - erst im Abspann. Ebenso wird in die verschiedenen Traditionen nicht eingeführt, die Saura hier präsentiert. Er habe zeigen wollen, nicht erklären, er habe das musikalische Erbe filmisch erfahrbar machen wollen, so der 84-Jährige.

"Zeigen, was verborgen liegt"

"Musik ist wichtig, weil die Musik bleibt, auch wenn sich eine Kultur sonst verändert und entwickelt. Nehmen wir den Flamenco: Da gibt es eine konstante Evolution. Viele verschiedene Traditionen und Kulturen treffen aufeinander. Es gibt spanische und argentinische Traditionen, und zugleich entsteht aus deren Symbiose etwas Neues. Und gerade in Argentinien gibt es bestimmte Traditionen, die meiner Meinung nach noch viel Potential haben, zu wachsen. Und das wollte ich mit meinem Film unterstützen: Ich wollte Dinge zeigen, die noch im Verborgenen liegen. Traditionen festhalten. Traditionen, die zugleich aber auch Neues erlauben, neue Ideen zulassen. Denn beides ist gleichermaßen wichtig: Die Erneuerung, zugleich aber auch der Erhalt der Tradition - darauf zu achten, dass Wurzeln erhalten bleiben und nicht ausgerissen werden."

Mit dem reduzierten Bühnensetting und den sparsam gestreuten Informationen zu den Liedern und Künstlern, lenkt Saura den Fokus ganz auf die Musik und den Tanz. Zugleich verpuffen aber für all jene, die nicht Kenner der argentinischen Geschichte und Folklore sind, die Liedtexte - die als Untertitel in deutscher Übersetzung mitlaufen - mit ihren politischen und gesellschaftlichen Hintergründen, die die Geschichte des Landes nachzeichnen, zwischen den Choreografien auf der Bühne. Ein Film eher für Argentinien-Kenner und -Fans, denn für Cineasten. Aber, so der Filmemacher: Er habe die Interpretation eben seinem Publikum überlassen wollen, mit dem Politischen, das sich wie so oft bei Saura nur indirekt erschließt.

"Aus einer Notwendigkeit entsteht ein Film"

"Ich habe einen Film gemacht, 'Los ojos vendados' 1978, über ein politisches Thema, das in Lateinamerika sehr wichtig ist: nämlich Folter. Es geht in diesem Film um Folter, aber zugleich thematisiere ich das nur indirekt, über einen Theatermacher, der ein Stück darüber auf die Bühne bringt. Damals reisten argentinische Frauen - selbst Folteropfer - durch Europa und machten auf die Bestialität der chilenischen und argentinischen Militärdiktatur aufmerksam. Und obwohl ich wusste, dass alles, was sie erzählten stimmte, hatte ich das Gefühl, diese Frauen spielen nur eine Rolle. Wie auf einer Bühne. Auch wenn es stimmte! Ich verspürte zugleich aber auch das Bedürfnis etwas darüber machen zu müssen …

Ich erzähle das als Beispiel. Als Beispiel dafür, wie aus einer Notwendigkeit, etwas zu erzählen, ein Film entsteht. Ein ähnliches Bedürfnis stand auch am Anfang von 'Tango', kein explizit politischer Film, aber da gibt es eine Sequenz, in der Polizeiautos vorkommen - und zwar die Autos, mit denen einst in der Diktatur Regimegegner abtransportiert wurden. Eine Sequenz, wie sie in einem Musikfilm vorher so wohl noch nie vorgekommen ist. Eine brutale politische Narration, verpackt in eine ganz bestimmte Form der Choreografie. Und dazu ein sehr provokantes politisches Lied. Es gibt viele Arten Politik zu thematisieren, oder politisch zu sein. Man kann auf die Straße gehen, demonstrieren oder eben zu Hause bleiben. Etwas schreiben, oder einen Film machen, oder was weiß ich."

Das Ballet Nuevo Arte Nativo de Koki & Pajarín Saavedra

Das Ballet Nuevo Arte Nativo de Koki & Pajarín Saavedra

FILMLADEN FILMVERLEIH

Der Konzert- und Tanzfotograf

Sauras reduzierte Herangehensweise an diesen Film ist auch eine Absage an jegliche Verkitschung von Folklore, der Schnitt richtet sich immer wieder nach dem Rhythmus der Lieder, und Saura filmt all das in Bildern, die an seine fotografischen Anfänge denken lassen, als der 20-jährige Saura ein Maschinenbaustudium abbrach, um als freier Fotograf zu arbeiten - spezialisiert auf Konzert- und Tanzfotografie. Heute erzählt Saura, habe er immer eine Fotokamera mit dabei. Er schreibt Romane, dirigiert kleinere Opernproduktionen. Er widme sich jetzt den schönen Dingen des Lebens.

"Ich sage immer: Ich bin ein Kind des spanischen Bürgerkriegs. Ich wurde 1932 geboren, bin zwischen den Bomben aufgewachsen und habe früh erlebt, was Krieg bedeutet", erinnert sich Saura. "Wir lebten in Barcelona, denn mein Vater war Sekretär des Finanzministers, und ich lernte auch die Republik kennen. Aber dann kam Franco, es gab Tod und Gewalt, und wir bekämpften ihn. Es war ein anderes Land, eine andere Zeit, alles hat sich radikal verändert. Heute ist Spanien als Teil der EU ein ‚normales‘ Land. Es gibt Ordnung, alles funktioniert mehr oder weniger. Aber natürlich gibt es Probleme, neue Probleme. Und es braucht deshalb auch neue Stimmen. Ich habe einfach nicht mehr die Energie, politische Filme zu machen."