Von Martin Leidenfrost

Expedition Europa

2004 zog der Niederösterreicher Martin Leidenfrost von Wien in eine Plattenbausiedlung bei Bratislava. Nur 35 Kilometer Richtung Osten und doch eine andere Welt. Was ein Kurzzeit-Experiment werden sollte, ist ein Dauerwohnsitz geworden. Von Devinska Nova Ves aus erforschte Leidenfrost dann ganz Europa. Nachzulesen sind seine Erfahrungen in seinem neuen Buch "Expedition Europa. Fünfzig exzessive Selbstversuche".

Kontext, 12.8.2016

Das zentrale Thema in Leidenfrosts neuem Buch sind Separatismen. Er findet harmlose wie in Triest. Da gibt es Bestrebungen, aus der Stadt einen Freihafen zu machen, ohne italienischen Einfluss. Oder er trifft in einem Glasgower Einkaufszentrum auf „unfrohe Menschen“: „Manch Zwanzigjährige ging schon merkwürdig hüftsteif“, „die Menschen bewegten sich eckig, mechanisch wie ferngesteuert“. Und dann ist da auch noch Angela, eine junge Frau, der alles widerfahren ist, was zu einer kaputten Biografie gehört. Um sich ein paar Pfund zu verdienen, bietet sie Martin Leidenfrost Sex an. Der lehnt ab, will aber wissen, wofür sie stimmt beim Unabhängigkeits-referendum. Mit Ja, antwortet sie, ich bin Schottin. Ich fürchte nichts.

Leidenfrost wirft Schlaglichter auf ein Land. Lakonisch in der Form, atmosphärisch dicht und sehr persönlich, Prosa liegt ihm mehr als das Sachbuch. Manchmal enden die Texte abrupt, und der Leser fragt sich: War's das? Meistens aber spürt man, wie viel mehr Leidenfrost von dem Land weiß, über das er schreibt, und wie sehr er sein Wissen verknappen muss, um nicht zu lang zu werden. Das gilt auch für seine slowakische Kolumne – die er allerdings nicht einfach übersetzt, sondern mit einer anderen Haltung schreibt.

Viele Expeditionen Martin Leidenfrosts lesen sich beunruhigend, nie aber auf Brisanz kalkuliert. Es ist immer klar, dass der Autor sein ganz persönliches Vorwissen, seine Sozialisation zum Maßstab nimmt, um Menschen und Situationen zu beurteilen. Es geht ihm gar nicht um vermeintliche Objektivität, wie das viele Reportagen beanspruchen. Als Leser sieht man die Welt mit Leidenfrosts Brille, und weil er oft unverbrauchte Formulierungen und Vokabeln verwendet, ist es ein Vergnügen, dies zu tun.

Service

Martin Leidenfrost, "Expedition Europa. Fünfzig exzessive Selbstversuche", Picus Verlag