Wien aus der Sicht Obdachloser

Weihnachten ist die Zeit des Schenkens, aber auch des Spendens. Wer beides verbinden und darüber hinaus noch profitieren will, kann das mit einer ganz besonderen Stadttour tun: Seit einem Jahr bietet der Verein "Supertramps" Führungen durch Wien an, bei der obdach- oder wohnungslose Menschen als Guides ihre ganz persönlichen Plätze in der Stadt zeigen.

Donaukanal

APA/AFP/JOE KLAMAR

Kulturjournal, 19.12.2016

Später Nachmittag in der Vinzi-Rast, dem sozialen Wohnprojekt von Cecily Corti, im neunten Wiener Bezirk. Einmal die Woche treffen sich hier Mitglieder des gemeinnützigen Vereins "Supertramps" zu einem Jour fixe. Mit Projekten wie Stadtführungen unterstützt der Verein obdachlose und ausgegrenzte Menschen. Sie führen als Guides durch ihr Wien und erzählen aus ihrem Leben, sagt Projektmanagerin Teresa Bodner.

Als Aufwandsentschädigung bekommen sie pro Tour 20 Euro vom Verein vergütet. "Unsere Guides haben die Tour konzipiert und entwickeln ständig weiter. Und dafür werden sie honoriert. Da merkt man schon, dass es indirekt das Selbstbewusstsein stärkt. Weil man ihnen quasi eine verantwortungsvolle Aufgabe gibt", so Bodner.

Plötzlich auf der Straße

Gegen 18 Uhr wartet Hedy im sechsten Wiener Bezirk auf ihre Tour-Teilnehmer. Bis alle beisammen sind unterhält sie mit Tipps aus der Natur, wie man sich in der kalten Jahreszeit gesund hält. Erzählen wird sie den Teilnehmer/innen, dass sie immer selbständig gearbeitet hat, nie krank war, nie Arbeitslosengeld bezog. Wie sie ihre kranke Mutter gepflegt hat. Dann durch widrige, bürokratische Umstände ohne Versicherung oder irgendeine staatliche Unterstützung dastand.

Aus den drei Wochen wurden drei Monate. Inzwischen sind es drei Jahre, dass sich Hedy abwechselnd im Wienerwald und in Wien aufhält - je nach Witterung. Den Wald hat sie verlassen, als ihr das Geld ausging und sie eine Möglichkeit finden musste an Nahrung zu kommen.

Anleitung zum Überleben im Freien

Erste Station Hedys Stadtführung: einige große Mülltonnen. Hedy prangert an. Weist auf die Überflussgesellschaft hin. Fragt sich, warum es der Gesetzgeber nicht schafft, umzuverteilen - vorhanden wäre ja genug. Die zweite Station ist ein kleiner Park, wo Bäume und Dickicht Hedys Unterschlupf im Wienerwald symbolisieren. Hier gibt sie Anleitung zum Überleben im Freien. Ein Schlafplatz muss vor allem trocken sein. Eine Plane ist also hilfreich.

In der Stadt würde sie aber nie in einem Park übernachten. Das wäre viel zu gefährlich. Deswegen schläft sie in Wien bei Bekannten. Sonst hält sie sich manchmal im Tageszentrum Ester, einige Straßen weiter in der Esterhazy Gasse auf: die dritte Station.

Derzeit sind fünf Supertramp-Guides auf unterschiedlichen Routen in Wien unterwegs. Und das Interesse an ihren Touren ist groß. Oft sind um die 20 Leute dabei. Das sind teilweise Gruppen junger Leute, die selbst in dem Bezirk der Tour wohnen, aber auch ganze Schulklassen oder Stammgäste.

Weltweiter Trend

Der Verein "Supertramps" wurde vor einem Jahr von Katharina Turnauer gegründet. Sie hatte mit ihrer gemeinnützigen Privatstiftung Sinnstifter bereits in Prag ein ähnliches Projekt aufgebaut. Andere Beispiele gibt es bereits in London, Berlin, Hamburg, Barcelona, Zürich, Basel, Kopenhagen oder New York.

Hedy ist inzwischen mit ihrer Gruppe Richtung Mariahilferstrasse unterwegs - nur um sie zu überqueren - es ist im Advent nicht unbedingt ihre bevorzugte Gegend. In den 1990er Jahren war Hedy als Clubchefin der "Alternativen Grünen" in der Josefstadt politisch aktiv. Vorletzte Station der Führung ist die so genannte Schatzkiste in der Kandlgasse: Hier kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit Sachspenden unkompliziert ablegen.

Letzte Station ist der offene Bücherschrank bei der Westbahnstraße, den Hermann Nietsch entworfen hat, erzählt Hedy stolz. Man habe auch lange gegen die städtische Bürokratie dafür gekämpft. Für sie persönlich eine der wichtigsten Stationen. Weil für Hedy ein Leben ohne Bücher nicht vorstellbar ist.

Jetzt, wo der Dezemberwind um die Ecke pfeift, fällt ihr doch noch ein Wunsch ein: in eine wärmere Gegend auswandern, damit die Arthrose in ihren Fingern nicht so sehr schmerzt. Aber diesen Plan verschiebt sie vorerst und überlegt bereits jetzt, welche Touren durch Wien sie im Frühling anbieten kann.

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