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Literatur
"Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara
Oft erfahren wir von sensationellen Bestsellern aus Übersee zunächst gerüchteweise. Das gilt ganz besonders für den Roman "A Little Life" von Hanya Yanagihara, einer bislang völlig unbekannten kalifornischen Autorin mit Wurzeln in Hawaii und Südkorea.
28. Jänner 2019, 10:17
Ihr Tausend-Seiten-Roman war 2015 in den USA ein Überraschungs-Bestseller, nicht zuletzt wegen des faszinierenden Cover-Bildes "Orgasmic Man" von dem amerikanischen Meister-Fotografen Peter Hujar. Es zeigt das schmerz- oder lustverzerrte Gesicht eines schönen Jünglings.
HANSER
Ex libris, 19.2.2017
Sigrid Löffler im Gespräch über "schiefe Metaphern", "stümperhafte Dialoge" und Glaubwürdigkeit.
Yanagiharas Roman war in der englischsprachigen Welt das meistdiskutierte Buch des Jahres 2015 und wurde mit Preisen überhäuft. Erschütterte Leser twitterten, das Buch habe sie zu Tränen gerührt, und eine US-Kritikerin bekannte, der Roman habe sie derart durchgerüttelt, "dass ich mich beim Weinen ertappte". Die Buchseiten seien "durchweicht von Leid". Mehr noch: "Man fühlt sich, als lebe man selbst in den Romanfiguren." Kurzum: der Roman sei ein Meisterwerk - "sofern dieser Begriff für dieses Buch nicht einfach zu klein ist."
Zwiespältige Reaktionen
Dass eine gestandene Kritikerin die professionelle Distanz zum Text völlig aufgibt und in die pubertäre Phase des identifikatorischen Lesens zurückfällt, ist erstaunlich genug. Schluchzende Leser, weinende Kritiker, tränendurchweichte Buchseiten: Dieser Roman ist nun unter dem Titel "Ein wenig Leben" auf Deutsch erschienen.
Der deutsche Verlag hat schon im Vorfeld ein gewaltiges Reklame-Getöse um das Buch veranstaltet. Das hat die Kritiker natürlich hellhörig gemacht. Alle großen Zeitungen haben den Roman sofort besprochen, mit etwas zwiespältigen Reaktionen. Die Kritiker scheinen insgeheim nicht ganz so begeistert, wie manche tun (oder glauben, tun zu müssen). Jedenfalls: Dieser Roman verdient es offenkundig, etwas genauer unter die Lupe genommen zu werden.
Vier New-York-Eroberer
Er beginnt wie das männliche Gegenstück zu Mary McCarthys Freundinnen-Roman "Die Clique". Nur sind es hier eben vier Freunde, Zimmerkameraden aus einem namenlosen College, die in ein seltsam zeitenthobenes, historisch nicht definiertes New York kommen, um Karriere zu machen. Aus den Anfangsschwierigkeiten mit miesen Jobs und miesen Untermietwohnungen strampeln sie sich rasch hoch. Bald sind sie nicht nur erfolgreich, sondern reich und berühmt.
Der eine wird ein internationaler Star-Architekt, der andere ein angesagter Maler mit Ausstellungen im MoMa und einer Retrospektive im Whitney Museum of American Art. Aus Willem, dem Dritten im Bunde der Freundes-Clique, wird ein preisgekrönter Filmstar. Jude, der Vierte im Bunde dieser Lebensfreunde und die geheimnisvollste Gestalt des Quartetts, wird ein brillanter und gefürchteter Prozessanwalt.
Nach nicht einmal hundert Seiten wird klar, dass dies nicht alles gewesen kann. Schließlich hat der Leser da noch 900 Seiten vor sich. In der Tat nimmt die Handlung bald eine drastische Wendung. Von der Schilderung der fröhlichen Kumpanei von vier hoffnungsvollen jungen New-York-Eroberern wechselt der Roman ins düstere Melodram und mausert sich zu einer Saga der Qual und Erniedrigung, des Selbstekels und Selbsthasses.
Saga der Qual und Erniedrigung
Fortan ist Jude der einzige Protagonist - ein verschatteter, schöner, aber rätselhaft versehrter junger Mann, der über seine Herkunft und Geschichte beharrlich schweigt und immer wieder von mysteriösen Schmerzattacken gepeinigt wird. Seine Freunde verblassen zu Nebenfiguren - sie werden zu Assistenzgestalten, zu Trabanten, die nur noch um diesen betörenden, selbstmordgefährdeten Schmerzensmann kreisen.
Der Architekt richtet ihm ein Luxus-Loft in SoHo ein und baut ihm ein nobles Landhaus im Umland. Der Künstler malt obsessiv immer wieder nur Judes Porträt. Und Willem stellt sogar seine Filmkarriere hintan, um seinen Freund und bald auch Liebhaber Jude zu umsorgen. Die Freunde und ein paar weitere Schutzengel scharen sich in übermenschlicher Selbstlosigkeit um Jude, um ihn zu beschützen und am Leben zu erhalten.
Bald wird klar: "Ein wenig Leben" ist ein Roman der überdimensionalen Gefühle. Übermenschliche Güte, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, selbstlose Freundschaft einerseits; unmenschliche Grausamkeit, monströse Gewalt- und Folter-Exzesse, ein Übermaß entsetzlichster Schmerz-Zufügungen andererseits. Dazwischen der gepeinigte Held Jude, der angebetet, aber auch gequält wird.
Judes Schreckenskindheit
Über hunderte Seiten hinweg ergeht sich die Autorin in dunklem Geraune, ehe sie Judes Lebensgeheimnis stückweise preisgibt. Horrend, was für eine Schreckenskindheit die Autorin ihrem Helden anhängt und ihren Lesern zu glauben zumutet. Demnach ist Jude ein Findelkind. Er wurde vor einem Kloster im Müll deponiert, von pädophilen Mönchen geprügelt und missbraucht, von einem anderen Mönch entführt und an brutale Jungenvergewaltiger vermietet, mit Geschlechtskrankheiten infiziert und schließlich zum Opfer eines Sadisten, der ihn absichtlich mit dem Auto überfuhr und fürs Leben verkrüppelte.
Dieses Trauma ist der Grund für Judes Selbstekel und seine zwanghaften Selbstverstümmelungen. Er verbrennt und ritzt sich routinemäßig. Sein heimliches Geschnetzel mit Rasierklingen, bis seine Arme und Beine von Narben und eiternden Wunden übersät sind, wird zum Leitmotiv des Romans.
Glaubwürdigkeitsproblem
Wer all dies bereits für sauren Kitsch und für ein Glaubwürdigkeitsproblem des Romans hält, der muss sich auf weitere Zumutungen gefasst machen. Denn als Kompensation für seine vielfachen Behinderungen stattet die Autorin Jude mit einem Übermaß an Begabungen aus. Er ist nicht nur ein brillanter Jurist, Mathematiker, Pianist und Lateiner; er spricht außerdem fließend Deutsch und Französisch. Und Kuchenbacken kann er auch.
Spätestens da fragt sich der Leser: Ist das vielleicht gar kein Roman, sondern eher eine als Roman verkleidete Heiligenlegende? Der Leser muss erkennen: Dieser Roman ist ein Märchen, auch in seiner abgrundtiefen Humorlosigkeit. Er ist ein Männer-Märchen, genauer: eine Märtyrerlegende, auch im besessenen Ausmalen sadistischer Folterungen und Körperqualen, geschrieben von einer in Wunden schwelgenden Autorin, die ihre Opfer-, Betreuungs- und Fürsorge-Phantasien in endlosen Wiederholungen literarisch auslebt und dem gefühlvollen Leser durch steten Druck auf die Tränendrüsen Mitleid abpresst. Hier gilt, was Oscar Wilde über die Sentimentalität in einem Roman von Charles Dickens anmerkte: "Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um über den Tod der kleinen Nelly nicht zu lachen."
Beleidigung für Intelligenz & Stilgefühl
Für den Kritiker ist "Ein wenig Leben" ein Ärgernis. Der Roman ist eine Beleidigung für Intelligenz und Stilgefühl - schlecht erzählt, voll schiefer Metaphern und falscher Bilder. Da ist etwa die Rede von einem "Schwarm krächzender Heuschrecken" und von "schlüpfrigen Aalen, die sich nur schwer mit dem Lasso fangen und einpferchen lassen". Da stößt man unentwegt auf falsche Vergleiche wie diesen: Eine "Kakophonie, so geräuschvoll wie eine Horde Mäuse." Oder es ist die Rede von der "Zufriedenheit, die in ihm plätschert wie Wasser in einem hellblauen Kessel".
Am meisten irritieren allerdings die stümperhaften Dialoge, die unzählige Male nach dem immergleichen gestörten Kommunikationsmuster ablaufen. Gefühlte tausend Mal endet jeder Wortwechsel unverzüglich in einem gewimmerten "Es tut mir so leid". Der masochistische Leidensgenuss des Helden Jude findet offenkundig sein Äquivalent in der Begeisterung, mit der sich Leser und eben auch Kritiker in Hanya Yanagiharas Qualwelt versenken. Man wird sehen, ob der Roman "Ein wenig Leben" seinen amerikanischen Siegeszug auch in der deutschsprachigen Literaturszene fortsetzen wird.
Text: Sigrid Löffler
Service
Hanya Yanagihara, "Ein wenig Leben", Roman, Übersetzung: Stephan Kleiner, Hanser Berlin. Originaltitel "A Little Life"