Das Zeitalter des Zorns
Autor Pankaj Mishra im Gespräch
Der Intellektuelle Pankaj Mishra hat sich in seinen Texten schon mit dem Erbe des Kolonialismus in seiner indischen Heimat oder mit Krisenregionen wie Kaschmir beschäftigt. Für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires: Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" wurde ihm 2014 der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung verliehen.
2. Februar 2018, 02:00
In der öffentlichen Debatte gibt sich Mishra gerne streitbar und lässt mit ungewöhnlichen Thesen aufhorchen, weshalb der britische "Guardian" sein jüngstes Buch einen "scharfsinnigen Weckruf" genannt hat. Das trägt den Titel "Das Zeitalter des Zorns" und erklärt die derzeit grassierende Gewaltbereitschaft, die Mishra in der Sprache nationalistischer Politiker genauso findet wie in den Attentaten junger Islamisten. Diese führt der Autor auf noch nie genannte Ursachen zurück. Im Gespräch mit Ö1 erklärt Pankaj Mishra, was europäische Avantgardekünstler mit islamistischen Attentätern zu tun haben.
Ö1: Pankaj Mishra, in Ihrem neuen Buch "Das Zeitalter des Zorns" schreiben Sie, dass sich die derzeit global stattfindenden Gewaltausbrüche weniger mit religiösen, nationalen oder kulturellen Unterschieden erklären lassen, als vielmehr mit der Krise einer jungen Generation - was macht die jungen Männer so zornig?
Pankaj Mishra: Junge Männer haben schon immer zu Zorn tendiert, das ist ganz natürlich. In den letzten drei Jahrzehnten lässt sich jedoch eine Eskalation beobachten. Damals wurde eine schwere Dysfunktionalität vieler Gesellschaften in Afrika und Asien augenscheinlich, für die aber fälschlicherweise der Islam verantwortlich gemacht wurde. Die Wurzeln dieser militanten Ausbrüche waren aber sozialer und wirtschaftlicher Natur.
Was sich dort in den 80er- und 90er-Jahren abspielte, schwappte mit 9/11 schließlich auf die westliche Welt über. Dieselben Mankos wie politischer Stillstand, wirtschaftliche Ungleichheit und das Zerbröseln des gesellschaftlichen Zusammenhalts lassen sich seit damals und verstärkt noch einmal seit der Finanzkrise 2007 auch in unseren Breiten beobachten. Deshalb müssen wir eine komplexere Erklärung für die aktuellen Ereignisse suchen, anstatt einfach eine bestimmte Religion oder Gesellschaft für den grassierenden Militarismus und Rechtsextremismus verantwortlich zu machen.
Um den Zorn dieser jungen Menschen verständlich zu machen, vergleichen Sie ihn mit dem Zorn, der vielen europäischen Avantgardebewegungen vor hundert Jahren zu Eigen war.
Dass terroristische Anschläge ständig auf religiöse Motive zurückgeführt werden, halte ich für eine maßlose Dummheit. Es ist einfach lächerlich zu glauben, jemand im 21. Jahrhundert lässt sich von den Worten eines Geistlichen im 13. Jahrhundert zu irgendwelchen radikalen Handlungen verleiten.
Wir müssen den Terrorismus vielmehr als die sehr moderne Form der sehr alten Suche junger Männer nach ihrer Männlichkeit begreifen. Hier werden spektakuläre Taten begangen, die anschließend verbreitet und in Propaganda verwandelt werden. Taten, durch sie sich ihre Würde und Identität zurückholen, die ihnen sonst verwehrt werden. Das ist aber nichts Neues: Schon Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Italien oder Russland entrechtete junge Männer mittels Terrorismus gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit zur Wehr gesetzt.
Und wenn sich die jungen Kämpfer heute als Soldaten des islamischen Staates bezeichnen, haben sie doch meistens keine Ahnung von der Religion, die sie zu verteidigen behaupten. Vielmehr sehnen sich diese häufig einsamen und isolierten jungen Männer nach einer Bruderschaft, die gewaltsam agiert und dadurch einzigartig und unverwechselbar ist. Und da gleichen sie europäischen Avantgardebewegungen, weil sie, so wie etwa auch die Futuristen vor hundert Jahren, Gewalt als ästhetische und existentielle Erfahrung betrachten. So muss man den gegenwärtigen Terrorismus lesen und nicht mittels irgendwelcher Rückgriffe auf den Koran.
Sie sind ein vehementer Kritiker des indischen Premierministers Narendra Modi, der genau wie Erdogan in der Türkei oder Trump in den USA ein sehr nationalistisches Programm fährt. Welche neuen Strategien wenden diese Politiker an?
Da lassen sich tatsächlich ganz ähnliche Muster beobachten. Die Verwendung sozialer Netzwerke etwa, hier vor allem Twitter, und die ununterbrochene, obsessive Selbstdarstellung, die sie dort auch abseits ihres politischen Programms betreiben. Und auch das öffentliche Auftreten dieser Politiker hat dieses spontane Element. Das ist ganz anders als bei Hitler und Mussolini, die zwar auch großen Wert auf ihre öffentliche Präsenz gelegt haben, deren Auftritte aber kontrolliert und genau inszeniert waren.
Die heutigen Machtpolitiker versuchen Dauerkontakt zum Volk zu halten, vor allem auch zu isolierten Bevölkerungsschichten, die nur über soziale Netzwerke mit der Außenwelt verbunden sind. Von Trump heißt es ja, dass er twittert, sobald er um vier Uhr morgens aufsteht. Mittels der neuesten technologischen Möglichkeiten möchten Leute wie er neue Teile der Bevölkerung erreichen.
Bei politischen Analysen werden immer die großen Städte in den Fokus genommen. Sie leben nun nicht nur in einem kleinen Himalaya-Dorf, sondern betrachten die ländlichen Gebiete auch als Regionen bedeutender politischer Entwicklungen.
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte von Enteignung und Entwurzelung. Breite Schichten der Bevölkerung wurden damals gezwungen, ihr ländliches Umfeld, ihre Arbeit und ihre traditionelle Lebensweise hinter sich zu lassen und in die großen Städte zu ziehen, um dort in Fabriken zu arbeiten. Diese Bevölkerungsbewegung war Auslöser aller Revolutionen, Kriege und Regimewechsel, die damals stattgefunden haben. Diese Geschichte hat sich zuletzt in weiten Teilen Asiens und Afrikas wiederholt. Und - wenig überraschend - mit sehr ernsten politischen Konsequenzen.
Ich habe mir in meinem Buch etwa die Biografie von Mohammed Atta, des Anführers der 9/11-Entführer, angesehen. Er stammte aus einem ägyptischen Dorf, zog nach Kairo und war dort abgestoßen von dem Leben in der großen Stadt. Diese Erfahrung war auch das große Thema der Literatur im 19. Jahrhundert - von Dickens bis Flaubert. Das haben wir aus den Augen verloren, das ist aber genau die Erfahrung, die derzeit hunderte Millionen junger Menschen machen, die ohne jegliche Zukunftsaussichten in die moderne Welt gestoßen werden.
In Ihrem Buch kann man auch vom italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini lesen. Der hat im 19. Jahrhundert für ein vereinigtes Italien gekämpft und wurde erstaunlicherweise für viele asiatische Freiheitskämpfer zur Leitfigur. Mit einer Bedeutung, wie Sie schreiben, die sogar über die von Marx hinausgeht.
Mazzinis Nationalismus war von der Idee getragen, die glorreiche Vergangenheit seines Landes wiederaufleben zu lassen. Damit konnten sich gebildete Araber, Inder und Chinesen im 19. Jahrhundert gut identifizieren, weil ihre Kulturen auch auf eine ruhmvolle Geschichte zurückblicken konnten. Mazzinis Auffassung von Nationalismus als neuer Religion, und was er sagte, über die Bedeutung von Mythen und Symbolen, das war für Menschen, die aus einem traditionellen Umfeld kamen, sehr verführerisch. Weit verführerischer als die weltliche Glaubenslehre, die von Marx vertreten wurde.
Service
Pankaj Mishra, "Das Zeitalter des Zorns - Eine Geschichte der Gegenwart", S. Fischer. Originaltitel: Age of Anger - A History of the Present
The Guardian - Welcome to the age of anger
Vogue - The First Essential Read of the Trump Era Is Here
Gestaltung
- Wolfgang Popp