Eine Frau putzt Erinnerungssteine von deportierten jüdischen Opfern

ASSOCIATED PRESS

"Ich fühle mich schuldig, das nicht erlebt zu haben"

Michael Turek ist auf der Suche nach den Spuren seiner Familie,auf Initiative des Jewish Welcome Service, nach Österreich gekommen. Seine Mutter hat ihre ersten Lebensjahre hier verbracht, bis sie als elfjähriges Mädchen mit einem Kindertransport nach England geschickt wurde. Das hat ihr das Leben gerettet, ihre Eltern wurden deportiert und ermordet.

Über dieses Kapitel ihrer Lebensgeschichte hat Michael Tureks Mutter bis zu ihrem Tod nie gesprochen. Und so hat sich der Sohn, heute ein Mann in mittleren Jahren und beruflich als Händler von Metallen tätig, selbstständig daran gemacht, seine Wurzeln zu erforschen. Brigitte Krautgartner hat mit ihm über seine Situation gesprochen.

Brigitte Krautgartner: Herr Turek, Sie haben gestern das Haus besucht, in dem Ihre Mutter elf Jahre lang gelebt hat. Was für eine Erfahrung war das für Sie?"

Michael Turek: Im Grunde war es nicht das Haus selber, das mir so nahe gegangen ist. Das Haus ist einfach Bausubstanz. Es ist grau, das Gegenteil von freundlich - ein Haus eben.
Als ich dann davor gestanden bin, hat mich etwas ganz anderes bewegt: die Frage, ob ich mich in den Fußspuren meiner Mutter bewege. Sind meine Großeltern hier Tag für Tag gegangen? Ist meine Mutter genau auf diesem Weg von der Schule nach Hause gelaufen, mit ihren Freundinnen, lachend? Als das Leben noch schön war. Und es hat eine Zeit gegeben, da war es schönn. Für mich war das ein wirklich bedeutsames Erlebnis.

Ihre Mutter musste 1938 Wien verlassen. Für ein Mädchen von elf Jahren ist das eine traumatisierende Erfahrung, sich von den Eltern zu trennen. Und doch ist ihr dadurch Schlimmeres erspart geblieben.

Michael Turek : Es gibt in meiner Familie tatsächlich Menschen, denen noch Grausameres widerfahren ist. Mein Vater hat mehrere Konzentrationslager überlebt. Er war jung und musste Sklavenarbeit leisten. Am 8. Mai 1945 ist er aus Theresienstadt befreit worden. Andere aus meiner Familie hatten nicht das Glück, zu überleben. Ich denke da zum Beispiel an meinen Großvater mütterlicherseits. Er war in Wien als Hutmacher tätig. Und: Er war Kantor in einer Synagoge.
Im Jahr 1938 hat man ihn nach Manchester eingeladen, um in einer Synagoge vorzusingen. Und tatsächlich hätte er den Posten auch bekommen. 1938 hätte er nach England gehen können!
Er hat abgesagt - mit dem Argument, in Manchester gebe es zu viel Regen.
Aber nach alldem, was ich von ihm gehört habe, war das nicht der wahre Grund. Er wollte seine Gemeinde in Wien nicht verlassen. Er hat gewusst, dass auf sie etwas sehr, sehr Schlimmes zukommen würde. Und so hat er sich entschieden, in Wien zu bleiben - obwohl er das Schicksal der jüdischen Community sehr deutlich vorhergesehen hat.

Wie hat sich diese belastete Familiensituation auf Sie und Ihre Psyche ausgewirkt?

Michael Turek : Vor kurzem hat eine Professorin am Mount Sinai Hospital in New York herausgefunden, dass der Holocaust in den Überlebenden genetische Schäden verursacht hat. Und dass die Schäden auch weitergegeben wurden. Sie sagt, sie kann das wissenschaftlich belegen. Und ehrlich: Ich glaube ihr!
Es gibt einfach keine andere Erklärung dafür, dass jemand so meschugge sein kann wie ich.
Aber jetzt ernsthaft... es sind sehr starke Gefühle, die ich in mir trage. Vor allem Gefühle der Schuld: Warum wurde ich vor dem Horror verschont, der über meine Eltern und Großeltern hereingebrochen ist? Meine Mutter musste mit elf Jahren alles zurücklassen - auch das war ein Trauma. Und dann natürlich die Lager... Ich fühle mich schuldig, das nicht erlebt zu haben. Und dann die große Verantwortung, all das Wissen und die Erinnerung daran weiter zu geben.

Das ist bestimmt alles andere als eine einfache Aufgabe.

Michael Turek: Für mich ist das alles Teil eines andauernden emotionalen Ringens. Einerseits geht es darum, mit dieser Vergangenheit irgendwie ins Reine zu kommen. Und andererseits ist da das beständige Bemühen, mehr über meine Wurzeln zu erfahren. Jeder braucht Wurzeln. In meinem Fall wurden die Wurzeln verbrannt und zu Asche gemacht. Jeder braucht eine Familienstruktur als Ausgangspunkt. Ich habe so etwas nicht. Meine Freunde erzählen mir von Großmüttern, Großvätern. So etwas habe ich nicht.
Irgendwie bin ich auf einer permanenten Suche nach meinen Wurzeln.
Als gläubiger Mensch wurde ich vielleicht von Gott dabei unterstützt, all die Informationen zu finden, die mir meine Mutter nicht geben wollte.
Vielleicht wollte Gott auf diese Weise sagen: Sieh es dir an, lerne, erspüre es - und dann gib es an andere weiter.

Die Frage wurde und wird ja oft gestellt: Wie konnte Gott etwas so Grausames wie den Holocaust zulassen? Haben Sie eine Antwort darauf?

Michael Turek: Nein, ich habe keine Antwort. Auf der einen Seite hilft mir mein Glaube trotz allem, emotionale Unterstützung zu finden. Aber dennoch ist es immer wieder ein enormer innerer Kampf: Wie bringe ich den Glauben an Gott zusammen mit den Schrecken, die über sein Volk herein gebrochen sind? Ich kann mir das nicht erklären. Es ist ein Kampf, den ich täglich führe.

Als Sohn jüdischer Eltern sind Sie ein direkter Nachkomme der Opfer. Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Nachkommen der Tätergeneration denken.

Michael Turek: Sie sind Menschen. Sie sind Geschöpfe Gottes. Und deshalb müssen wir gemeinsam etwas tun. Und ich bin mir sicher: Sie sehen das genauso. Wir müssen einander trösten. Und wir müssen miteinander eine bessere Gesellschaft schaffen, für alle nachfolgenden Generationen.
Die religiöse Komponente dabei ist wichtig: Auch die Nachkommen der Täterinnen und Täter sind Geschöpfe Gottes.