Paulus Hochgatterer

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Festrede

Zwei Wörter - Von Paulus Hochgatterer

Sehr geehrte Festgäste,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger!

Als mich Kurt Reissnegger im Oktober gefragt hat, ob ich mir vorstellen könne, diese Rede zu halten, war er so präzise, wie ORF-Menschen zu sein pflegen. Fünf bis acht Minuten lang, sowohl gesellschaftspolitisch als auch persönlich, so solle die Sache sein und Ö1 müsse nicht gelobt werden.

Wieso nicht? dachte ich, ich sage doch auch meiner Frau gelegentlich etwas Nettes. Wobei ich einräumen muss, dass ich meine Frau erst seit dreißig Jahren kenne, Ö1 hingegen seit fünfzig. Vielleicht lobt man da nicht mehr. Mittagsjournal, am Sonntag das Konzert zum Rindsschnitzel, unterbrochen von Heinz Fischer Karwin, "Aus Burg und Oper". So war das damals und manche von Ihnen können sich erinnern.

Apropos. In einem Rundfunkgespräch, das Heinz Fischer Karwin im Jahr 1957 - Ö1 muss dafür also eindeutig noch nicht gelobt werden - mit Heimito von Doderer führt, sagt Letzterer auf die Frage, was denn einen Schriftsteller so ausmache:
Der Schriftsteller ist ein ekelhafter Kerl, der ganz genau und absichtsvoll geplant zielstrebig arbeitet; allerdings zielt er nicht auf das Publikum, sondern auf ganz andere Dinge, vor allem auf die Entwicklung seiner eigenen Geistesmechanik.

Bei aller Ambivalenz Doderer gegenüber werde ich diesem Programm jetzt folgen. Ich werde eher meine Geistesmechanik entwickeln als direkt auf Sie zu zielen, meine Damen und Herrn, und ich werde in den Augen mancher vielleicht ein wenig ekelhaft sein. Es gibt Situationen, da geht das nicht anders, tut mir leid. Wie lautete das Motto des Kurzhörspielwettbewerbs? - Das ist kein Spiel.

Richtig, manches ist nämlich kein Spiel.

In letzter Zeit, und das mag meinem Alter und dem zunehmenden Versagen einer inneren Bremse geschuldet sein, fallen mir gegen meinen Willen immer wieder zwei Wörter ein. Beide haben mit meiner Kindheit zu tun. Das eine Wort bezeichnet etwas Hübsches, das andere weniger. Ich beginne mit letzterem.

Gesindel.

Was Gesindel bedeutet, lernte ich, als ich sechs Jahre alt war. In unserer Nachbarschaft lebten viele Kinder, unter anderem ein Mädchen, zwei, drei Jahre älter als ich, das nicht sprechen konnte und manchmal ohnmächtig wurde. Heute könnte ich die Verfassung des Mädchens benennen, als eine bestimmte Form der Behinderung, damals interessierte mich und meine Freunde, dass es anders war, anders ging, anders schaute und anders sprach, nämlich gar nicht. Vertraut war lediglich der Umstand, dass es wie wir alle einen Ball besaß, rot mit gelben Seepferdchen, daran kann ich mich erinnern. Sooft wir auf einer der Rasenflächen in den Gärten der Siedlungsstraße, in der ich wohnte, Fußball oder Indianer spielten, hockte das Mädchen mit seinem Ball am Rand, sah zu und tat sonst nichts. Das war so bis zu jenem Tag, an dem wir ohne Absprache plötzlich unser Spiel unterbrachen und uns anblickten, wie auf Kommando. Einer von uns - vielleicht war ich es, vielleicht ein anderer - ging auf das Mädchen zu, stellte ihm, obwohl klar war, dass es keine Antwort geben würde, die Frage, ob es mitspielen wolle, und nahm ihm im nächsten Augenblick den Ball weg. Wir dribbelten ihn über den Rasen und warfen ihn einander zu, über das Mädchen hinweg, das mit verzweifelt ausgestreckten Armen ungelenk zwischen uns herlief. Das taten wir, bis wir genug hatten. Dann ging derjenige, der ihm den Ball weggenommen hatte - vielleicht war ich es, vielleicht ein anderer - freundlich auf das Mädchen zu, den Ball mit den Seepferdchen auf der offenen Hand. Als das Mädchen freudig nach ihm griff, zog jener den Arm zurück und schob sich den Ball vorn unter sein Ruderleibchen. Das Mädchen drehte sich im Kreis, völlig verwirrt, auf der Suche nach dem Ball. Dann öffnete es den Mund, um zu schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Als es schließlich blau zu werden begann, holte jener Genannte den Ball unter seinem Leibchen hervor, ließ ihn fallen und wir liefen davon.

Ich erzählte die Sache meinem Vater, vielleicht aus schlechtem Gewissen, vermutlich jedoch vor allem, weil mich die blaue Gesichtsfarbe des Mädchens doch ein wenig geängstigt hatte. Mein Vater, stets überkorrekt in der Wahl seiner Worte, sprach eine Weile gar nichts, dann sagte er einen einzigen Satz: "So benimmt sich Gesindel."

Ich verzichtete darauf, nachzufragen, denn mir war augenblicklich klar, was Gesindel, dieser Begriff, den ich auf Grund seiner kategorisch pejorativen Wucht auch heute noch nicht leiden kann, bedeutete. Gesindel war, wer Schwächeren etwas wegnahm, das er selbst gar nicht brauchte. Gesindel war, wer wusste, dass er selbst stärker war und trotzdem die Schwäche des Anderen spüren musste. Gesindel war, mehr noch, wer es zur Aufrechterhaltung der eigenen Stärke notwendig hatte, die Schwäche des anderen ständig zu erneuern. Gesindel war, wer dem behinderten, sprachlosen Mädchen den Ball mit den Seepferdchen wegnahm.

Gesindel ist, wer es zur Aufrechterhaltung des Gefühls der eigenen Stärke notwendig hat, die Schwäche des anderen ständig zu erneuern. Ich habe keine Ahnung, ob das heute noch Gültigkeit besitzt. Gesindel ist, wer dem behinderten, sprachlosen Kind seinen Ball wegnimmt. Ist das noch so?

Von zwei Wörtern habe ich vorhin gesprochen, die mir in letzter Zeit einfallen, und über das zweite, das hübschere, das ich etwa zur gleichen Zeit, in der ersten Klasse Volksschule, kennenlernte, hätte ich auch noch gern geredet, aber ich fürchte, das erlaubt die Zeit nicht. Es wäre das Wort 'Schmuckzeile' gewesen.

Manche von Ihnen wissen noch, was eine Schmuckzeile ist: Der bunte, gefällige, im Idealfall ein wenig kreativ gestaltete Abschluss der schriftlichen Arbeit eines Volksschülers. Eine Bordüre aus Blümchen, Osterhasen oder geometrischen Elementen. Die Schmuckzeile sei nichts anderes als die Ästhetisierung des Schlussstriches, das wäre mein Postulat gewesen, und da der Schlussstrich seinerseits jene gewalttätige Figur darstelle, die suggeriere, man könne sozusagen per Handstreich ohne Bindung an Vorheriges nicht nur existieren, sondern auch so etwas wie Identität besitzen, sei die Schmuckzeile die Verzierung dieses totalitären Aktes. Man markiert, dass die Dinge ein hübsches Ende haben, dass aber jetzt bitte doch einmal Schluss sein muss. An dieser Stelle hätte ich ein wenig über Zygmunt Baumanns Figur der Retrotopie, des nostalgisch rückwärts gewandten Blicks in eine in Wahrheit noch gar nicht beendete Vergangenheit, gesprochen und noch kürzer darüber, was Aleida Assmann mit der Formel des komplizitären Vergessens zum Schutz von Tätern meint. Der nostalgisch verzierte Schlussstrich als Komplize derjenigen, zu denen mein Vater vermutlich gesagt hätte: "So benimmt sich Gesindel."

Schmuckzeile also. Ich wette, sie steht vor einem Comeback. Hier bleibt es beim Anstreifen im Konjunktiv.

Apropos Konjunktiv. Hätte Heinz Fischer Karwin mich gefragt, was denn einen Schriftsteller so ausmache, hätte ich wahrscheinlich gesagt, ein Schriftsteller sei ein armer Kerl, der entweder nach Wörtern grabe und sie nicht finde oder von Wörtern überfallen werde, gegen die er sich nicht wehren könne. Von 'Schmuckzeile' zum Beispiel oder von 'Gesindel'. Ich habe keine Ahnung, ob ihm das gefallen hätte.

Herzlichen Dank fürs Zuhören!