Ein Kind sitzt, zwei hängen über der Sitzbank

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Journal Panorama

Wenn Konzentrieren zum Kraftakt wird

Vielfach wird ADHS als "Modediagnose" bezeichnet. Nach Schätzungen des Gesundheitsministeriums leiden in Österreich bis zu sieben Prozent der Kinder und vier Prozent der Erwachsenen an ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.

ADHS galt lange als psychische Störung, an der nur Kinder und Jugendliche leiden. Die Geschichten über "Hans Guck in die Luft" und "Zappelphilipp" aus dem "Struwwelpeter" stammen aus dem Jahr 1844. Doch ADHS kann in jedem Lebensalter auftreten. Seit gut 20 Jahren wird ADHS auch öfter bei Erwachsenen diagnostiziert: Symptome aus dem Kindesalter, wie Rastlosigkeit, Unkonzentriertheit oder Impulsivität bleiben nämlich bei rund zwei Drittel der Erwachsenen bestehen.

Durch die Erblichkeit der Veranlagung kommt es in manchen Familien gehäuft vor. Aber nicht jeder, der die genetische Veranlagung zu ADHS hat, entwickelt zwingend eine Störung. Umfassende epidemiologische Studien liegen dazu noch keine vor. Und auch die Auslöser von ADHS sind noch nicht restlos erforscht.

"Ist ADHS eine Behinderung? Ich würde sagen ja, weil es einem nicht die gleichen Chancen gibt, wie jemandem der es nicht hat." Herr Maier, ADHS-Patient.

ADHS ist eine genetisch bedingte Reifungs- und Regulationsstörung: Die Ausschüttung und Aufnahme der Botenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin im Gehirn ist nicht im Gleichgewicht. Aus diesem Grund ist die Reiz-Weiterleitung gestört. ADHS ist nicht heilbar, da man die genetische Disposition ja nicht ändern kann, aber gut behandelbar. Mit Hilfe von Training, Therapien und Medikamenten kann den meisten Betroffenen gut geholfen werden.

Aufwändige Testungen zur Diagnose

Um eine gesicherte ADHS-Diagnose zu erhalten, muss mehrdimensional abgeklärt werden. Bei Kindern wird altersgerecht die motorische, psychische und soziale Entwicklung erhoben, mit speziellen Fragebögen und Computerprogrammen wird auch die Konzentrationsfähigkeit getestet. Bei ADHS unterscheiden die Experten drei Schwere-Grade. Danach richtet sich die Therapie.

Da es sich um eine rein klinische Diagnose handelt, die nicht etwa durch einen Bluttest nachgewiesen werden kann, sind die Testverfahren auch für Erwachsene aufwändig. In der Spezialambulanz des Wiener Allgemeinen Krankenhauses absolvieren mögliche Betroffene zwei ausführliche Interviews.

Beim ersten Termin muss ein umfangreicher Fragebogen ausgefüllt werden. Die Fragen sind nicht einfach mit "Ja" oder "Nein" zu beantworten, sondern jede Frage führt zu einer weiteren. Beim zweiten Gespräch ist oft ein naher Angehöriger dabei, der die Antworten des mutmaßlichen ADHS-Patienten zusätzlich auch noch aus seiner Sicht bewertet. Experten warnen vor Fragebögen im Internet, die sind sehr oft viel zu trivial, um zu einer möglichen Diagnose zu kommen.

Schon kleine ADHS-Kinder werden oft ausgegrenzt

Ist ein Kind schwer von ADHS betroffen, beeinträchtigen die Symptome erheblich. Sehr kleine Kinder können durch eine verzögerte Sprachentwicklung auffallen, viele schlafen schlecht, sie sind besonders aktiv und haben oft kein Bewusstsein für Gefahren. Viele haben auch Schwierigkeiten mit einer natürlichen körperlichen Distanz, gehen zu grob mit anderen Kindern um und werden daher schnell ausgegrenzt.

Kinder turnen auf einer Sitzbank

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Betroffene Kinder lassen sich leicht ablenken, können schwer bei einer Sache bleiben und wollen immer im Mittelpunkt stehen. Es gibt aber geschlechtsspezifische Unterschiede: Während ADHS-Mädchen in ihrer Unkonzentriertheit zunächst verträumt wirken und die Diagnose deshalb erst später gestellt wird, fallen Buben oft schon früh durch ihre Hyperaktivität auf. In vielen Fällen beginnen wirkliche Probleme vor allem dann, wenn Struktur gefragt ist - im Kindergarten, später in der Schule.

Stillsitzen, leise sein, sich in einer Gruppe unterordnen, nicht die Regeln bestimmen zu können - das fällt schwer. Dazu kommt, dass die Konzentrationsfähigkeit zu wünschen übrig lässt: ADHS-Kinder hören etwa das Vogelgezwitscher von draußen, sie bemerken, dass der Sitz-Nachbar mit einem anderen Kind wispert, sie registrieren Sesselrücken oder Schritte am Gang vor der Klassentüre, aber sie können nicht dem folgen, was der Lehrer sagt.

ADHS zeigt sich bei Erwachsenen anders

Rund zwei Drittel der betroffenen Kinder leiden auch als Erwachsene an ADHS. Die zeigt sich dann nur anders, weil Erwachsene ja diszipliniert sein müssen und Nervosität meist gut kaschieren können. Betroffene erscheinen oft unorganisiert, sie haben Probleme mit der Terminplanung, schieben Dinge oft auf die lange Bank und können sich nicht aufraffen, Unvermeidliches wie etwa eine Steuererklärung oder einen Amtsweg zu erledigen.

Viele mit ADHS Diagnose schaffen es allzu oft einfach nicht, den Fokus auf das Wesentliche zu legen. Sie verzetteln sich und kommen dadurch in Stress. Die motorische Unruhe verwandelt sich oft in eine innere. Dieses permanente Sich-anstrengen-müssen und Sich-zusammenreißen wird zum Kraftakt. Und kann mit der Zeit zu anderen psychischen Störungen wie zu einer Depression führen.

"Wundermittel" Ritalin?

Es gibt Medikamente, die jungen wie älteren ADHS-Patienten gut helfen können, ein geordneteres Leben zu führen. Ist klinisch-psychologisch einwandfrei abgeklärt, dass ein schwerer Fall von ADHS vorliegt, kann der Facharzt Medikamente empfehlen, etwa Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, ein verschreibungspflichtiges Betäubungsmittel.

Viele ADHS-Patienten scheitern im Alltag, obwohl sie überdurchschnittlich intelligent sind. Haben sie Hilfe, können sie oft sogar zu Höchstleistungen fähig sein. Der Entdecker der Substanz war ein Angestellter einer Schweizer Arzneimittelfirma, der schon 1944 herausfand, dass sich seine Ehefrau Rita nach Verabreichung von Methylphenidat leichter konzentrieren konnte. Selbstversuche standen damals noch auf der Tagesordnung. Nach der Gabe von Ritalin spielte Rita auch besser Tennis - sie gab der Arznei ihren Namen.

"Zum ersten Mal sitz' ich im Unterricht und hab' kein Problem, bei der Sache zu bleiben. Ich hör' nicht nebenbei noch 27.000 andere Geräusche." Lena (13) über ihr ADHS-Medikament.

Medikamente wie Ritalin, Concerta oder Strattera helfen bei vielen schweren ADHS-Fällen sehr gut. In Österreich werden sie normalerweise erst ab einem Alter von sechs Jahren verschrieben. Nur in ganz schweren Fällen kann ein Kinderpsychiater auch schon ab drei Jahren Medikamente empfehlen, etwa dann, wenn ein Kind in keiner Kindergarten-Gruppe bleiben kann, weil es sich nicht unterordnet, andere Kinder stört und attackiert und die gesamte Aufmerksamkeit der Betreuer ganz auf sich ziehen würde.

Die Einstellung der Medikamente muss von einem Facharzt erfolgen, eine maßgeschneiderte, begleitende Therapie ist ein absolutes Muss. In Österreich herrscht nach wie vor ein Mangel an Kinderpsychiatern mit Kassenvertrag, wodurch es manchmal zu Wartezeiten von bis zu drei Monaten kommt. ADHS-Medikamente werden zumeist in Kombination mit anderen therapeutischen Maßnahmen wie Psychotherapie, Ergotherapie und Verhaltenstraining verschrieben.

Schulklasse

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Bei den meisten ADHS-Patienten wirkt Ritalin hervorragend. Es hat allerdings - vor allem durch mangelnde Verschreibungsrichtlinien in den USA - einen heiklen Beigeschmack bekommen. In den 1960er Jahren wurden damit oft nervöse Hausfrauen "ruhiger gestellt". Viele US-Ärzte verabreichen aber auch Kindern allzu leichtfertig Psychopharmaka - laut UNO Drogenbericht wurde bei rund elf Prozent der vier- bis 17-Jährigen ADHS diagnostiziert, was die Abgabe von Ritalin sprunghaft steigen ließ.

Vielen Eltern von ADHS-Kindern wird unterstellt, dem Nachwuchs Medikamente zu geben, um sie zu Spitzenleistungen anzuspornen. Dabei kommen viele ADHS-Kinder im normalen Regel-Schulbetrieb gerade einmal auf Vierer-Niveau durch die Schule, obwohl sie in Wahrheit "Lauter-Einser-Kinder" wären. Für Spezialschulen, in welchen ADHS-Kinder von einem multiprofessionellen Team begleitet werden, muss man ungefähr 450 Euro pro Monat bezahlen. Dafür werden Kinder in solchen Einrichtungen pädagogisch, psychologisch und therapeutisch betreut.

Bei Kiprax etwa, einer Diagnose- und Therapieeinrichtung im 19. Bezirk in Wien, werden mehr als 100 Schüler - vorwiegend mit der Diagnose ADHS - von 24 Lehrpersonen vormittags in Kleingruppen unterrichtet. In dem gemeinnützigen Verein kann individuell auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder eingegangen werden. ADHS ist nicht heilbar, weil das Gehirn ja anders arbeitet, aber sehr gut behandelbar. Menschen mit ADHS sind oft sensibel und sehr kreativ. Bekommen sie genügend Unterstützung, sind viele zu Höchstleistungen fähig.

Service

Adapt – Arbeitsgruppe zur Förderung von Personen mit ADHS
Kiprax - Praxis und Bildungszentrum im Netzwerk für Lern-, Schul- und Erziehungsfragen
AKH Wien - Ambulanz für Depression, bipolare Erkrankung und ADHS

Gestaltung