Mäanderndern Flusslauf

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Diagonal zum Thema Flüsse

Flüsse sind Lebensadern und Lebensräume, Energiequellen und Mythenproduzenten. Sie sind gefährlich und sie sind gefährdet.

Flüsse, so könnte man postulieren, sind so etwas wie das Schneewittchen der Natur. Angesichts der offenkundigen Eindrücklichkeit von Meeren oder gar Ozeanen, von Bergen oder gar Gebirgszügen samt deren Einschüchterungspotenzial schnell wirkender Erhabenheit kommen Flüsse - und selbst Ströme - meist leise daher. Von den gelegentlich ebenfalls mit einschüchternder Erhabenheit spielenden Wasserfällen mal kurz abgesehen.

Lebensadern

Man braucht für die Wertschätzung von Flüssen und Strömen Einfühlungsvermögen und Geduld für genaues Hinsehen und langes Betrachten, viel Reisezeit und ausreichend Beobachtungsflexibilität, um die - ganz schneewittchenmäßig - vorerst verborgene, aber nichtsdestotrotz essenzielle und eminente Qualität zu erkennen, zu schätzen, schlussendlich vielleicht sogar lieben zu lernen. Die Flüsse sind nämlich die Lebensadern zwischen besagten Gebirgen und Ozeanen, sie sind jenes Adernnetz, das Leben ermöglicht. Im übertragenen Sinn ebenso wie im ganz konkreten.

Widersprüchliche Komplexität

Die Donau sei doch heute eindeutig viel sauberer als noch vor einer halben Generation, wirft man im Gespräch ein. Ja schon, kommt die Antwort postwendend, aber leer. Viel zu wenig Leben gebe es in den Flüssen heutzutage. Wer will einen steril sauberen, aber quasi leblosen Fluss, sagt der naturschützende Flussökologe. Ja, genau. Wer will den? Und warum? Oder: Wer will ihn nicht, und warum? Vor allem aber: Was wollen wir gegebenenfalls stattdessen? Von Regulierungen und Renaturierungen war da jetzt noch gar nicht einmal die Rede, da würde es erst so richtig losgehen mit der widersprüchlichen Komplexität.

Es sei doch gut, setzt man fort, dass es inzwischen - genau dank solcher Flussökolog/innen - zumindest einige gewonnene Kämpfe gegen riesenhafte Staudämme und Kraftwerksprojekte gebe. Besser sei doch Kleines und lokal Verortetes als die sprichwörtlichen Großkapitalmonster der Stromindustrie, setzt man nach. Ja, schon, wendet besagter Flussökologe Ulrich Eichelmann augenblicklich ein, aber bei genauerem Hinsehen würde man bemerken, dass nichts unökonomischer ist als solche Kleinkraftwerke. Enorm viel Schaden an der Natur werde damit angerichtet, und dann komme nicht einmal vernünftig kalkulierbarer Stromgewinn dabei heraus. Die Geschichte beginnt also schon nach wenigen Minuten, unübersichtlich zu werden. Small is not beautiful, sondern dumm? Sauber ist nicht gut, sondern leblos?

Im Konkreten verfängt man sich also schnell in den Schlingpflanzen widersprüchlicher Realitäten. Wir wenden uns in Diagonal den Flüssen zu. Wir tun das gern. Dabei muss man genau aufpassen, was man mit wessen Kriterien misst und beobachtet.

Flüsse als Mythologieproduzenten

Weniger im Konkreten erlebt als im übertragenen Sinn gedacht wird die Geschichte mit den Flüssen und Strömen aber auch nicht einfacher. Zeitsprung. Italien um 1650. Ein repräsentatives Kunstwerk wird in Auftrag gegeben. Der Papst - wir sind in Rom - will seinen beziehungsweise den Anspruch der katholischen Kirche auf die ganze Welt dargestellt sehen. Der Bildhauer, wir reden von niemand Geringerem als Gian Lorenzo Bernini, entscheidet sich für die Darstellung jener vier Kontinente, die man damals kennt und benennen kann. Zeigen will Bernini sie anhand jener vier großen Flüsse, die man damals als Durchquerer dieser Kontinente kennt, also Nil, Ganges, Donau und Río de la Plata. Natürlich meißelt er nicht Flussverläufe, sondern Männer. Und die Aufgabe zu erkennen, wer welchen Fluss repräsentiert, übernehmen die modischen Accessoires: Pflanzen, Tiere, Symbole. Das Auffälligste: Der Nil verhüllt sein Gesicht. Wohl, weil niemand wusste, wo dessen Quellen eigentlich wirklich liegen. Und es sollte auch noch bis ins späte 19. Jahrhundert dauern, bis in diese Sache wenigstens annähernd Licht kam.

Satellitenaufnahme des Nils

Satellitenaufnahme des Nildeltas

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Flüsse und Ströme waren und sind eben nicht nur Lebensadern und Ökologiesysteme, sondern auch Mythologieproduzenten. Sie waren von jeher kulturgeschichtlich aufgeladen und Gegenstand emotionaler Auseinandersetzungen. Die Menschen haben sie erforscht und vermessen, aber sie haben sie vor allem besungen, über sie sinniert, ihnen Verse und Gedanken gewidmet, Brücken und Boote gebaut. Auch davon wird man in diesem Diagonal hören.

Heimisches Postskriptum

Saßen wir doch unlängst am Donauufer. Die paar Steinstufen, auf denen wir sitzen, führen hinunter zum Wasser. Neben mir ein Bergkind, ich ein Donaukind. Es nähert sich ein Lastkahn. Ein großer. Wunderbar anzusehen in seiner behäbigen, na gut, sagen wir es noch einmal, aber anders, in seiner seltsamen Form von Erhabenheit. Komm, sage ich, lass uns doch ein paar Stufen hinaufgehen, sonst wird es gleich ungemütlich. Was hast du denn, sei doch nicht so uncool, sagt das Bergkind. Aber als ein paar Minuten später die vom erhabenen Lastkahn verursachten Bugwellen tatsächlich viele der Steinstufen überschwemmen, weiß das Bergkind, wovon das Donaukind geredet hat. Es geht immer um Details und Erfahrung.

Aber an Flüssen zeigt sich das meist nicht auf den ersten Blick: Ein ruhig wirkender Fluss und dennoch bedrohliche Wellen? Sauber und zugleich tot? Kraftwerk oder nicht? Auch abseits von Ganges, Nil und Amazonas, ganz einfach an der Donau, und vor allem, wie in diesem Diagonal zu hören sein wird, an den noch verbliebenen Wildflüssen auf dem Balkan lässt sich viel über die wunderbare Welt des Flussdaseins, seine lebensspendende ebenso wie bedrohliche und bedrohte Seite lernen. Und da sind jetzt noch gar nicht die nahezu verschwundenen Donau-Störe und aktuell drohenden Hochwasser zur Sprache gekommen.